Man würde erwarten, dass bei der Überprüfung der Aussagen von Asylsuchenden wissenschaftliche Methoden verwendet werden. Es erstaunt wenig, was sich in der Schweiz zum Thema Istanbul-Protokoll abspielt.
Seit den 90er Jahren haben sich forensische MedizinerInnen und PsychiaterInnen mit der Frage beschäftigt, wie Vorwürfe der Folter zuverlässig, aber gleichzeitig für die potenziellen Opfer möglichst schonend untersucht werden können. In einer grossen Arbeitsgruppe wurde das «Handbuch für die wirksame Untersuchung und Dokumentation von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder entwürdigender Behandlung oder Strafe» entwickelt, das unter der Bezeichnung Istanbul-Protokoll bekannt wurde.
Im Jahr 2000 hat die Uno-Generalversammlung das Handbuch zur Anwendung empfohlen, was seither verschiedentlich bekräftigt wurde: von der Uno-Kommission für Menschenrechte, der Europäischen Union sowie von vielen wichtigen Menschenrechtsorganisationen. Regelmässig wird die Schweiz in den Berichten des Uno-Komitees gegen Folter ermahnt, diese Methoden einzuführen und anzuwenden.
Der Fall Nekane
Breiter bekannt wurde das Istanbul-Protokoll im letzten Jahr im Zusammenhang mit der baskischen Aktivistin Nekane Txapartegi. Spanien hatte ihre Auslieferung beantragt, sie war wegen Unterstützung der ETA zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Im Auslieferungs- und Asylverfahren wehrte sie sich gegen die Auslieferung – hauptsächlich mit der Begründung, dass das Urteil ausschliesslich auf Aussagen abgestützt war, die sie nach ihrer Verhaftung unter Folter unterzeichnen musste. Ihre Aussagen zur Folter wurden in einem Gutachten von zwei ausgewiesenen ExpertInnen bestätigt. Das gemäss Istanbul-Protokoll erstellte Gutachten wurde in beiden Verfahren mehrheitlich ignoriert. Zu einer gerichtlichen Korrektur der erstinstanzlichen Entscheide kam es aber nicht mehr: Nekane Txapartegi wurde nach 17 Monaten Auslieferungshaft freigelassen, weil Spanien den Auslieferungsantrag zurückzog – ein Vorgehen, das sich bei der spanischen Justiz mittlerweile schon fast zur Routine entwickelt hat. Missliebige Entscheide im Ausland, in denen festgestellt würde, dass im spanischen Staat gefoltert wird, sollen um jeden Preis verhindert werden.
Eine Arbeitsgruppe?
Im Mai 2017 antwortete der Bundesrat auf eine Interpellation von Nationalrat Balthasar Glättli, dass zwar keine Weisungen zum Umgang mit Gutachten gemäss Istanbul-Protokoll bestehen, sich jedoch eine Arbeitsgruppe mit dieser Frage befasse. Gross war die Irritation, als auf eine Nachfrage der Organisation Mondiale Contre la Torture (OMCT) klar wurde, dass gar keine solche Arbeitsgruppe existiert und der Bundesrat das Istanbul-Protokoll mit der Istanbul-Konvention, dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen, verwechselt hat. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde deutlich, dass sich die Bundesbehörden nicht dafür interessieren, die im Istanbul-Protokoll entwickelten forensischen Methoden anzuerkennen oder anzuwenden. Im Jahr 2015 empfahl das Uno-Komitee gegen Folter die Anwendung des Handbuchs, letztes Jahr unterstützten auch die Demokratischen JuristInnen sowie die Aktion von Christen zur Abschaffung der Folter (ACAT) diese Forderung. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) blieb bisher renitent. Eine Bestätigung von Foltervorwürfen scheint nicht erwünscht. Daran ändern weder eine sozialdemokratische EJPD-Vorsteherin noch ein Staatssekretär mit Hilfswerks-Vergangenheit etwas.
Eine Koordinationsgruppe von NGOs hat inzwischen beim Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) angefragt, wo die Arbeit der angekündigten Arbeitsgruppe stehe. Der Brief wurde unterzeichnet von zahlreichen NGOs. Balthasar Glättli hat nochmals eine entsprechende Frage eingereicht.
Behördliche Sturheit
Im Juni 2018 antwortete das SEM, dass es zur Zeit die Möglichkeit und Notwendigkeit der Einsetzung einer Arbeitsgruppe prüfe, da die Frage verschiedene Ämter betreffe. Um dann noch nachzuschieben, dass schon jetzt Gutachten gemäss Istanbul-Protokoll angefordert werden könnten.
Tatsächlich ist es aber nicht die Aufgabe der Asylsuchenden oder ihrer RechtsvertreterInnen, sondern die des SEM, die Abklärungen vorzunehmen, die die vorgebrachten Asylgründe bestätigen oder widerlegen könnten. Genau das hat das SEM mit dem hartnäckigen Ignorieren des Istanbul-Protokolls bisher jedoch nicht machen wollen. Offenbar setzt diese Behörde lieber auf wissenschaftlich fragliche Röntgenmethoden zur Altersbestimmung und die eigenen, meist anonymen ExpertInnen, die vor allem Argumente für negative Entscheide liefern. Unabhängige Gutachten, die eventuell eine Gefährdung, Folter oder Misshandlung bestätigen könnten, scheinen weniger erwünscht. Gerade bei Asylgesuchen wird mit dieser Sturheit auch die Antifolter-Konvention verletzt, die die Untersuchung von Foltervorwürfen und den Schutz von Opfern verlangt.