Juliette Müller. In Renens im Kanton Waadt besetzen Flüchtlinge den Garten einer Notunterkunft. Dabei werden sie von einer Gruppe freiwilliger HelferInnen unterstützt. Eine Reportage.
Der Boden ist nass und gegen Abend setzt der Regen ein. Unter einer grossen Plane, die an einem Zaun und an Abfallcontainern festgemacht ist, sitzt eine Familie zusammen auf einer Matratze. Auf beiden Seiten des Kieswegs, der das Gebäude der Notschlafstelle umrandet, stehen wild durcheinander Zelte, die behelfsmässig aus Decken und Planen zusammengebastelt sind. Eine Gruppe junger Männer afrikanischer Herkunft begrüsst uns und heisst uns willkommen. «Ich habe fünf Jahre in Italien verbracht, aber es gab dort keine Arbeit. Jetzt bin ich hier, in dieser Situation. Die Schweizer Behörden sind schlimm, rassistisch», empört sich Paul, ein Flüchtling aus Nigeria. Er versteht nicht, wieso er keine Chance bekommt nach fast sieben Jahren in Europa. So wie er haben viele BewohnerInnen des Gartens der Notunterkunft in Renens keine Aufenthaltsbewilligung. Sie sind davon bedroht, in das europäische Land zurückgeschickt zu werden, in das sie zuerst eingereist sind.
Wie ein Zweitjob
Die Notunterkunft und den Garten kennen Deborah und Christiane gut. Die zwei freiwilligen Helferinnen von der Organisation United for Peace (U4P) kommen beinahe jeden Abend vorbei. «Wir haben manchmal sogar hier geschlafen», sagt die dreissigjährige Deborah, die tagsüber im kantonalen Justizwesen arbeitet. «Es ist wie ein Zweitjob für mich. Manchmal komme ich um zwei Uhr morgens nach Hause und muss nach fünf Stunden wieder aufstehen.» Die Organisation wurde ursprünglich in Frankreich gegründet, Deborah gehörte damals zu den GründerInnen. Christiane, die sie begleitet, ist etwas später zur Bewegung gestossen. Wieso engagiert sie sich hier? «Man kann die Menschen nicht einfach draussen lassen», antwortet sie, bevor sie zu einer Gruppe junger Leute geht und ein Gespräch auf Italienisch beginnt.
Die Zelte und Planen hat U4P zur Verfügung gestellt mithilfe von Spenden. Mit der Zeit sind Freiwillige gekommen wie Christiane oder Fabrice, der zum ersten Mal da ist. «Ich verstehe nicht, wieso man keine Lösung findet. Es gibt so viele leere Wohnungen!» Er hat die Gruppe via Facebook kennengelernt und voilà, schon hat er ein paar Thermoskannen mit Tee vorbereitet, um sie zu verteilen. «Wir sind etwa fünfzig Aktive, die sich hier abwechseln. Fünfzig weitere unterstützen uns mit Nahrungsmitteln, Material und Spenden», erklärt Deborah. Zur kleinen Truppe gesellen sich noch Ariane, Chris und Vivana, die für alle gekocht hat. «Ich habe Kinder im gleichen Alter. Wenn es sie ans andere Ende der Welt verschlagen hätte, wäre ich froh, wenn sich jemand um sie kümmern würde», sagt die gebürtige Chilenin mit einem Lächeln. Zuerst hat sie syrischen Flüchtlingen geholfen, jetzt ist sie hier. «Nur weil man anderswo geboren wurde, heisst das nicht, dass man keine Rechte hat», sagt sie.
Man ist im Hier und Jetzt
21.30 Uhr. Nach und nach werden im schwachen Licht, das vom Gebäude der Notschlafstelle herkommt, auf verschiedenen Tischen Nahrungsmittel verteilt. Hier und da wurden Taschenlampen herausgeholt, um im Dunkeln zu sehen. Regentropfen beginnen zu fallen. «Wir haben keine Zelte mehr. Wir haben alle aufgebraucht.», sagt Chris, ein weiterer Gründer von U4P. Trotz der prekären Situation ist die Stimmung ruhig, beinahe angenehm. «Sie gehen gut mit uns um», meint der Nigerianer Paul. «Manchmal gibt es magische Momente», erzählt Ariane, die nach einer Mission auf der griechischen Insel Chios hier mitmacht. «Es hat mich richtig angesteckt», schmunzelt sie und fügt hinzu: «Man kommt, weil man auch etwas davon hat.»
Bei allen freiwilligen HelferInnen tritt dieses Gefühl der «Befriedigung» hervor. Weil man etwas zurückgeben und sich nützlich fühlen kann? Vielleicht. Viele Fragen kann man sich jedenfalls nicht stellen. Die administrativen Probleme, die konkrete Situation jedes Einzelnen, ob sie sich in der Schweiz aufhalten dürfen oder nicht, auch die Politik und die Zukunft des Ortes bereiten grössere Sorgen. Man ist im Hier und Jetzt. Gibt man den MigrantInnen keine «falschen Hoffnungen», wie die Behörden ihnen vorgeworfen haben? Die Frage erstaunt Chris. Er antwortet einfach: «Wir geben keine ‹falsche Hoffnung›. Wir geben Kleidung, ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen.» Übermorgen ist sogar der Besuch eines Arztes vorgesehen.
Eine neue Bewegung der «523»?
Die Behörden von Lausanne und Renens haben den MigrantInnen ein Ultimatum gesetzt. Letztere haben sich aber zum Bleiben entschieden. «Die Polizeikontrollen haben zugenommen», berichtet Ariane. Die Solidarität aber auch. «Die Migration ist eine Realität. Es gibt sie in allen Länder und niemand will sie sehen», stellt sie fest. «Es wäre gut, wenn die Behörden eine Lösung finden würden», fügt Viviana hinzu. Deborah hofft ihrerseits auf eine neue Bewegung der «523»: abgewiesene AsylbewerberInnen, die vor über zehn Jahren im Kanton Waadt Kirchen besetzt haben und schliesslich aufgenommen wurden mit Unterstützung der Bevölkerung.
Im Moment wird ein Treffen mit den Behörden gefordert. «Damit sie uns einen Raum zur Verfügung stellen, den wir selbstständig verwalten können», sagt Deborah.