tai. Der deutsche Journalist Johannes Supe beschäftigt sich schwerpunktmässig mit Arbeitskämpfen im Pflegebereich. Im Gespräch mit dem «vorwärts» erklärt er, was man von den Erfahrungen in Deutschland lernen kann.
Welche Arbeitskämpfe finden im Moment in Deutschland statt?
In Deutschland haben sich grosse Teile der Linken von einer Orientierung auf Arbeitskämpfe und ArbeiterInnen – seien das Angestellte oder wirklich Industrie- und BauarbeiterInnen – verabschiedet. Das ist ein Grund, weshalb ich mich sehr stark auf Arbeitskämpfe und gewerkschaftliche Auseinandersetzungen fokussiere. Und da tut sich in Deutschland gerade tatsächlich einiges. Wir haben Arbeitskämpfe in einem sehr bedeutenden Bereich, in der Pflege, und die ist in Deutschland ausgesprochen prekär. Einerseits auf der Ebene der Bezahlung: Gerade AltenpflegerInnen – in den meisten Fällen Frauen – verdienen gegenüber anderen Fachkräften im Durchschnitt sehr viel weniger. Aber auch KrankenpflegerInnen gehören nicht zu den bestbezahlten Gruppen in der Bundesrepublik. Was für die Beschäftigten teilweise noch verheerender ist, ist die unfassbare Personalnot. In Deutschland ist die Ökonomisierung des Gesundheitssystems sehr weit vorangeschritten. Die Krankenhäuser und Pflegeheime stehen überall in Konkurrenz zu einander und diese Konkurrenz wird auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen. Einerseits durch niedrige Löhne, andererseits dadurch, dass man versucht, Personal einzusparen. Indem man also mit möglichst wenig Personal möglichst viele PatientInnen betreut. Das ist von den Beschäftigten eine lange Zeit mitgetragen worden, was durchaus verständlich ist. Die PflegerInnen sagen sich, wir können nicht einfach streiken, damit gefährden wir das Patientenwohl. Aber gerade jetzt wurde in Deutschland der Punkt erreicht, wo diese Einstellung zu kippen beginnt. Wir haben im vergangenen Jahr einen aufsehenerregenden Arbeitskampf gehabt, wo die Beschäftigten der Charité gestreikt hat. Das ist ein Universitätsspital in Berlin, eines der grössten in Europa. Die Belegschaft der Charité ist über eine längere Zeit in den Ausstand getreten und hat gesagt: Nicht unser Streik gefährdet die PatientInnen, sondern die Normalbedingungen unserer Arbeit. Und sie haben nicht nur gestreikt, sie haben es geschafft, ganze Krankenhausstationen lahmzulegen, das heisst, die PatientInnen mussten verlegt werden. Das Ganze ist ohne jede Gefährdung der PatientInnen geschehen.
Was wurde erreicht?
Die Lahmlegung von ganzen Stationen bedeutet für das Spital grosse Einbussen, und man hat nach längerem Streik zum ersten Mal geschafft – und das ist wirklich etwas ganz Neues – durchzusetzen, dass mehr Beschäftigte eingestellt werden. Das ist ein wirkliches Signal gewesen. Seitdem dieser Arbeitskampf so erfolgreich geführt wurde, kann man an beliebige Konferenzen der Pflegekräfte gehen und man hört überall vom Beispiel der Charité, man hört überall, wie sich Belegschaften anderer Krankenhäuser auch überlegen, in den Streik zu treten. Und wir haben jetzt vor kurzem, im April, im Rahmen einer Tarifauseinandersetzung einen Warnstreik gehabt, an dem sich 10 000 Beschäftigte aus Krankenhäusern beteiligt haben. Da ist wirklich etwas ins Rollen gekommen. Die Pflegebeschäftigten in Deutschland sind im Moment wirklich diejenigen, die mit ihrer Situation sehr unzufrieden und zugleich sehr kämpferisch sind. Sie sind diejenigen, die auch die Gewerkschaftsbewegung voranbringen, weil sie nämlich neue Formen der Streiks finden und zwar Formen, in denen die Beschäftigten selbst sehr viel stärker eingebunden sind als bisher in traditionellen Streiks. Ich glaube, das ist etwas, das man sehr genau beobachten sollte und eine grosse Ausstrahlung hat – eventuell auch in die Schweiz, weil die Durchökonomisierung des Gesundheitssystems auch in diesem Land stattfindet.
Was passiert in der Schweiz im Gesundheitsbereich?
Ich glaube, dass man im gesamten deutschsprachigen Raum viele sehr ähnliche Probleme findet. Wirklich zufrieden sind die Beschäftigten weder hier noch in Deutschland. Man hat damit auch die Chance, ähnliche Antworten zu finden.
Es gibt natürlich im System der Sozialversicherungen, im Aufbau des Pflegesystems, einige Unterschiede zwischen der Schweiz und Deutschland. Aber die Entwicklung geht in dieselbe Richtung: Durchökonomisierung. Beispielsweise schlägt die Schweiz einen Weg ein, der in Deutschland bereits weit fortgeschritten ist, und zwar mit den sogenannten «Fallpauschalen». Das bedeutet: Wenn du dir ein Bein brichst, bezahlt man nicht mehr das Krankenhaus dafür, dich zu kurieren. Für den Beinbruch hat das Krankenhaus 3000 Franken zur Verfügung. Wenn sie es schaffen, dich für weniger als 3000 Franken zu kurieren, macht das Krankenhaus plus. Wenn nicht, nicht gut. Diese Entwicklung wird in der Schweiz erkennbar und es lohnt sich deshalb, anzuschauen, welche Antworten vom VPOD, von der Unia und auch von der radikalen Linken – wo sie eine Rolle spielt – kommen. Es empfiehlt sich für die Schweizer Bewegung aber auch, sich anzuschauen, welche Antworten in Deutschland gefunden werden. Beispielsweise der Pflegestreik in der Charité. Ich glaube, von solchen Erfahrungen kann man durchaus lernen.