Früher wurde in Canary Wharf mit SklavInnen und Opium gehandelt. Heute erkennen Kameras hier dein Gesicht und Obdachlose sind innovativ. Streifzug durch ein Londoner Viertel, in dem private Unternehmen schon seit 1800 Hoheitsrechte haben.
Jack steht oft vor dem Supermarkt im Londoner Geschäftsquartier Canary Wharf. Mit Hornbrille und Beret gleicht er weniger einem Obdachlosen als einem in die Jahre gekommenen Professor. Auch seine Bitte überrascht mich: Jack will Reis und Corned Beef aus dem Supermarkt.
Gut möglich, dass Jack zur Windrush-Generation aus Jamaika gehört, die jüngst Opfer einer Kombination aus Schlamperei und restriktiver Einwanderungspolitik des britischen Innenministeriums geworden ist. Viele verloren wegen ihres unklaren Aufenthaltsstatus Job und Wohnung.
Vor der Metrostation Canary Wharf treffe ich Tim. Auch er erwirtschaftet in diesem Viertel sein Kleingeld. Eine Büchse «Stella Artois»-Bier in der Hand, die graue Kapuze trotz Augusthitze tief über die Stirn gezogen, schlägt mir Tim folgenden Deal vor: «Hast du abgelaufene Fünf-Pfund-Noten? Ich kann sie in der Spielothek gewinnbringend einsetzen.» Nach einem kurzen Gespräch über das Wetter und Glücksspiel gehe ich den Deal ein und Tim kritzelt meine Nummer auf ein Stück Zigarettenpapier. Ich muss an den zahnlosen Bärtigen denken, der mir am Abend zuvor seine über den Tag geschnorrten Zigaretten «verkaufen» wollte.
Die Festung
Das rund 40 Hektare grosse Gebiet im Londoner East End steht im Eigentum des Unternehmens Canary Wharf Group, die das Viertel plant, entwickelt und vermarktet. Nach Angaben der Group arbeiten auf dieser Fläche über 115 000 Personen. Die Befugnisse der Canary Wharf Group auf ihrem Grund und Boden sind weitgehend: Die Group hat einen eigenen Sicherheitsdienst, der den Zugang ins Viertel kontrolliert, Hausverbote ausspricht und über eine Arsenal an Überwachungskameras verfügt, zirka 160 an der Zahl. In der Überwachungsmetropole London sind 160 Kameras wenig für ein Stadtviertel. In der umsatzstarken Einkaufsmeile Oxford Street im Nordwesten, wo etwa Nike sein Hauptquartier aufgeschlagen hat, stehen an einer einzigen Kreuzung, dem Oxford Circus, über 300 Kameras. Und doch ist das Gefühl der Überwachung in Canary Wharf stärker als anderswo. Immerhin verfügt das auf einer Flusshalbinsel gelegene Viertel über drei Strassensperren, die rund um die Uhr besetzt sind. Wer mit dem Auto oder Bus kommt, muss zwingend daran vorbei. Will ein Auto rasch passieren, stellen sich im Boden eingelassene Metallplatten automatisch auf. Tagsüber patrouillieren auf den Plätzen Securitymänner, auch mit Hunden. Später werde ich ihnen wieder begegnen.
Die Anfänge
Canary Wharf liegt im Herzen der Londoner Docklands auf der Isle of Dogs. Bis ins Jahr 1800 war das Gebiet ein versumpftes Gebiet mit Weilern, wo die Armen und Verruchten wohnten. London hörte damals östlich der Towers auf. Bald jedoch sollten die Docklands Drehscheibe des Empire werden. Das Vormachtstreben der BritInnen war bereits vorhanden. Kaum hatten sie Irland annektiert, die FranzösInnen aus Ägypten vertrieben und ihre Macht in Indien mit einer königlich legitimierten Privatarmee gesichert, wurden auch die privaten UnternehmerInnen aktiv. Die East India Company zum Beispiel betrieb mit dem Handel von Tee und Opium ein sehr profitables Geschäft. In der Karibik schufen sich private HändlerInnen und PlantagenbesitzerInnen ein immenses Vermögen mit dem Anbau und Handel von Zucker, Rum und Kaffee. So auch der Schotte Robert Milligan, Spross einer Sklavenhalterfamilie auf Jamaika. Mit 33 Jahren hatte er eigentlich schon ausgesorgt und hätte sich zurücklehnen können. Doch offenbar wollte Milligan mehr als nur die Früchte seiner SklavInnen verkaufen. Denn so wohlhabend er auch war, von Jamaika aus bestimmte damals niemand den Kurs der Welt. Zwar hatte er der Kolonialregierung schon geholfen, SklavInnenaufstände niederzuschlagen und sass der Handelskammer in Kingston vor, doch die echten Einflussnehmer sassen im Parlament in London. Dort wollte Milligan hin und so machte er sich 1779 auf nach England und liess sich allmählich in London nieder. Seine Reise sollte die Stadt, das Empire, die Welt nachhaltig verändern.
In London lebten damals gerade etwas mehr als eine Million Menschen, ein nicht unwesentlicher Teil davon bildeten die HafenarbeiterInnen. Sie verdienten ihr Brot am ältesten Hafen der Stadt, den Green Land Docks, wo sie die Waren aus den Kolonien umluden. Die ArbeiterInnen hatten über tausend Kräne und Karren zur Verfügung, doch letztlich war es die Muskelkraft, der London ihren Reichtum verdankte. Doch manchen war das nicht genug: Die Themse war geradezu verstopft mit Schiffen. Weil es dadurch öfters zu wochenlangen Verspätungen beim Abladen kam, mussten die HändlerInnen Verluste in Kauf nehmen. Entweder verdarb die Ware oder die AbnehmerInnen sprangen ab. Zu all dem Übel kamen die FlusspiratInnen der Themse, die sich gerne in die ungesicherten Hafenbecken vorwagten. Milligan ärgerte all dies gewaltig, doch er hatte schon länger einen Plan: Was, wenn die Hafenbecken fortan grösser, sicherer und tiefer wurden? Im Jahre 1800 wandte er sich schliesslich an seine Freunde in London, die waren wie er: Reich, weiss und einflussreich. Mit ihrer Hilfe brachte er nach heutigem Wert fast 40 Millionen Pfund zusammen. Die West India Dock Company war geboren und wurde vom Parlament sogleich mit der Bauherrschaft für neue Dockanlagen betraut. Nur zwei Jahre später wurden die Docks eröffnet. Milligans Einfluss in London lässt sich an den Gästen ablesen, die damals anwesend waren. Nebst zahlreichen Parlamentsmitgliedern und Adligen war da auch Premierminister William Pitt. Die West India Dock Company unter Milligans Leitung hatte fortan das Monopol auf jegliche Importe aus Westindien. Heute würde man Milligan wohl Interessenskonflikte oder Insiderhandel vorwerfen, blieb er doch Plantagenbesitzer und Vorsitzender der Handelskammer in Kingston.
Die MenschenhändlerInnen
Doch die Investition lohnte sich auch für Milligans Partner. Die neuen Docks ermöglichten es, den Warenumschlag der West India Dock Company nicht nur zu erhöhen, sondern auch zu beschleunigen. 1803 beschloss auch die East India Company, die ihrerseits ein Monopol für den Handel mit Ostindien hatte, eigene Docks zu bauen. Sie setzten kurz darauf schon 30 Millionen Pfund pro Jahr um. Richtige Konkurrenten waren die beiden Companies nicht, denn mit ihren Sortimenten kamen sie sich nicht in die Quere. Nur über Baugebiete und Durchfahrgenehmigungen wurde gestritten. Londons Oberschicht aber hatte dank dieser beiden Handelsgiganten bald alles, was sie damals für ihr rauschendes Leben brauchte: Tee, Kaffee und Zucker, Rum, Tabak und Gewürze.
Die Profite bauten aber nicht nur auf die Genusssucht der wenigen, sondern auf das Leid von Millionen. Es war der Handel mit SklavInnen, der die Warenproduktion möglich machte. Und er erwies sich als das profitabelste aller Geschäfte. Historiker-Innen schätzen heute, dass in London ansässige KapitalistInnen die Verschleppung von über einer Million AfrikanerInnen verantworten. Eine Dauerausstellung des Museum of London bringt vieles von damals wieder zutage: Innert fünf Jahren, also zwischen 1802 und 1807, haben über 3000 Sklavenschiffe London verlassen. Nirgendwo sonst auf der Welt wurde mit Sklaverei so viel Profit angehäuft wie in London, genaue Zahlen dazu können die Forscher-Innen allerdings noch nicht liefern. Die BritInnen verboten den Sklavenhandel zwar «bereits» um 1807, doch die Sklaverei auf den Übersee-Plantagen blieb noch lange legal – und einträglich. Das einflussreiche West India Committee, dem Milligan als Gründer angehörte, stellte sich immer vehement gegen die Abschaffung der Sklaverei. Als Milligan um 1809 starb, nannte er sich Besitzer von über 500 SklavInnen. Die Abschaffung der Sklaverei im Jahre 1833 erlebte er nicht mehr. Noch heute steht vor dem Museum seine bronzene Statue, im Gebäude selber hängt eine Liste der Sklavenschiffe und ihren Eignern.
Der Niedergang
Nach der Abolition blieben die Docklands noch lange eine wichtige Drehscheibe für britische KapitalistInnen. Nach 1945 wurden die durch deutsche Bomben zerstörten Anlagen im Nu wieder aufgebaut. In den Sechzigern wurde hier wieder ein Fünftel des britischen Warenumschlages abgewickelt. Doch 20 Jahre später war der Güterumschlag im Hafen von London so gut wie zum Erliegen gekommen. Grund waren die neu aufkommenden Schiffscontainer. Die schmalen Kanäle und Becken eigneten sich schlicht nicht mehr für diese Art der Verschiffung. Für einen Moment schien es, als würden die Docklands wieder zu dem werden, was sie vor 1800 waren: Eine brache, uninteressante Peripherie, in der die armen Leute wohnen und wo kein Geschäft zu machen war.
Als die, inzwischen staatlich geführten, Docks Anfang der 80er geschlossen wurden, war die Arbeitslosenquote in den Vierteln der Docklands drastisch gestiegen. Den Niedergang beschreibt auch Dirk Schubert in seinem Beitrag zum Buch «London – Geographie einer globalen City»: «Von 1975 bis 1982 wurde die Anzahl der Arbeitsplätze von 8000 auf 600 reduziert.» Zwar habe es Pläne gegeben, das Gebiet mit sozialem Wohnungsbau und der Ansiedelung von GewerblerInnen zu retten, schreibt Schubert, «aber der Plan blieb eine Vision und wurde nicht implementiert. Die Port Authority als grösster Landbesitzer – mit grossen Liquiditätsproblemen – veräusserte Flächen nur nach dem Höchstgebotsverfahren». Die Authority wurde aufgelöst, das kurze Zwischenspiel der staatlichen Regulierung war vorbei.
Die Eiserne Lady
Die 1979 gewählte neoliberale Thatcher-Regierung witterte Profite. Gerade waren weltweit Gesetze zur Deregulierung der Finanzwirtschaft verabschiedet worden. Nach Vorstellungen der Thatcher-Regierung sollten die Docklands ein Musterbeispiel neoliberaler Stadtentwicklung werden. Filetstück der Docklands: Die Brache Canary Wharf. Hier sollte sich die Finanzwirtschaft der Welt ansiedeln. Thatcher überliess die gesamte Planung privaten UnternehmerInnen. Planungsaufgaben sah Thatcher ohnehin nur als eine Bürde für den Staat an. Gleichzeitig entledigte sie sich so der demokratischen Mitsprache ihrer BürgerInnen. Der Greater London Council, der derlei Vorhaben bis anhin geprüft und legitimiert hatte hatte, wurde 1986 abgeschafft. Und weder die ansässigen BürgerInnen noch das Parlament stimmten je darüber ab, was mit den Docklands geschehen sollte. Unter der Eisernen Lady entwickelte sich Canary Wharf zu einer Glas- und Stahlwüste.
Heute ist zumindest dieser Teil der Docks wieder eine Geldmaschine. Es kann nur erahnt werden, wie viel sie heute nach London spült. Die Canary Wharf Group schrieb 2015 immerhin einen Gewinn von 558 Millionen Pfund, umgerechnet 823 Millionen Schweizer Franken. Die Angstellten der rund um die Uhr verfügbaren Konsumangebote müssen sich mit weniger zufrieden geben. Die Verkäuferin hinter dem Subway-Tresen verdient sechs, der Security vor der Tür des 24h-Fitnesscenters sieben Pfund die Stunde. Auch die Menschen aus den umliegenden Vierteln wie Poplar, Limehouse und Lewisham profitieren kaum von der Geldmaschine Canary Wharf. Die Wohnungsknappheit ist just in diesen Bezirken besonders ausgeprägt. Ein Banker in Canary Wharf verdient 100 000 Pfund, weit über dem Medianeinkommen in den Vierteln rundherum.
Die Wohnungsnot
Mittlerweile gibt es in der 14-Millionen-Stadt über 8000 Obdachlose. Die Dunkelziffer ist wohl um einiges höher. Es sind Entwicklungen wie jene in Canary Wharf, die dieses Problem mitverursacht haben. Londons Zeitungen sind voll mit Berichten über Obdachlosigkeit. Gemeinnützige Organisationen monieren, dass das Problem eigentlich schon seit zehn Jahren gelöst sein könnte. In einem Strategiepapier fordert etwa die Obdachlosenhilfe «Crisis», dass die Regierung Sozialwohnungen und erschwinglichem Wohnraum zur Verfügung stellen soll. Bürgermeister Sadiq Khan und sogar Premierministerin Theresa May befürworten derlei Massnahmen. Doch das Thema ist längst zum Spielball der Politik und Schuldzuweisungen zwischen links und rechts geworden. Radikale Lösungen, wie den Wohnungsbau staatlich zu verordnen, werden immer wieder durch Kompromisse abgeschwächt.
Es ist, wie schon zu Zeiten Thatchers, üblich, dass private Firmen die Stadtentwicklung übernehmen. Im Bezirk Redbridge wurde etwa eine Supermarktkette mit dem Bau von 683 Wohnungen betraut. Gerade mal vier Prozent davon waren für NormalverdienerInnen bestimmt, Obdachlose wurden gar nie in Erwägung gezogen. Prompt folgte die mediale Empörung, doch Khan winkte das private Grossprojekt im April trotzdem durch. Wenigstens boten die InvestorInnen den Kompromiss, mit einem Teil der Gewinne günstigen Wohnraum anderswo zu subventionieren. Bleibt die Frage, wo es dazu noch Platz hat, wenn sogar in der Innenstadt verfallene Häuser leer stehen.
Abseits der Zeitungsspalten wird gegen die Schwachen ein eher repressiver Kurs gefahren: Zwar existiert mit Streetlink ein öffentlicher Notfalldienst für Leute, die draussen schlafen, doch das Betteln ist ihnen weitgehend verboten. Das entsprechende Gesetz richtet sich gegen sogenannte «Antisoziale» und «Bettlerbanden», trifft aber auch die Obdachlosen: Je nach Auslegung fällt auch die simple Nachfrage nach etwas Kleingeld darunter. Die Repression wird selbst von den WohltäterInnen getragen. Streetlink etwa rät dringend davon ab, Obdachlosen Geld zu geben. Dadurch würden falsche Anreize gesetzt, ja Obdachlose würden sogar ermutigt, ihr Leben auf Kosten anderer zu führen. Überhaupt seien viele BettlerInnen gar nicht obdachlos.
Der kalte Wind
Die Canary Wharf Group publiziert seit 2015 keine Zahlen mehr auf ihrer Website. Auch sonst gibt sie sich verschlossen. Fotografieren und Filmen ist auf dem Grundstück nicht ohne Weiteres erlaubt. Als ich im Vorübergehen eine der Strassensperren fotografiere, werde ich vom anwesenden Security aufgefordert, das Material zu löschen. Da ich dem Security meine Identitätskarte nicht zeigen will, droht er mit der Polizei. Schliesslich liess er mich ziehen mit den Worten: «Von nun an werden unsere Kameras dein Gesicht verfolgen. Wir haben es in unseren Daten.» Ich stutze: Die Gesichtserkennungstechnologie für Überwachungskameras ist erst seit Kurzem auf dem Markt. Ist das überhaupt legal? Auf meine Nachfrage bei der Canary Wharf Group, ob sie Gesichtserkennung benutzt, erhalte ich keine ausführliche Antwort. Man gebe zu den Sicherheitssystemen keine Auskunft.
Kurz nach diesem Erlebnis stosse ich auf der Website der Canary Wharf Group auf den aufschlussreichen Hinweis: «Canary Wharf ist darum bemüht, seine Grundstücke für so viele Menschen wie möglich zugänglich zu machen.» Das klingt gut, liest es sich doch wie eine Einladung. Doch spürt man, dass die Nutzung des Raumes an ganz bestimmte Bedingungen geknüpft wird: Wer weder konsumiert noch produziert, für den ist der Zugang nicht einfach «möglich». Schliesslich sollen die Docks so effizient und einträglich bleiben wie eh und je. Jack und Tim bin ich seither übrigens nicht mehr begegnet. Es fehlen Menschen in Canary Wharf. Es ist kälter geworden.