In Rojava ist, anders als in den bürgerlichen Nationalstaaten, die Sicherheit und Selbstverteidigung die Aufgabe aller. Während hier die Herrschaftsstrukturen im Inneren von Polizeikräften gesichert werden, ist es in Rojava das Ziel, dass sich die Gesellschaft selbst verteidigt. Jede und jeder, egal wie alt, schaut für die Sicherheit in ihrem Umfeld.
Anfang Januar 2019 haben wir mit zwei Vertreterinnen der HPC Jin (Hêzen Parastina Cewherî Jin), den Frauenselbstverteidigungskräften der Kommunen in Derik Rojava, Syrien, gesprochen. Bei der revolutionären Mobilmachung gegen den drohenden Krieg spielt diese Struktur eine zentrale Rolle in der Organisierung der Verteidigung von Quartieren und Städten. Einmal mehr ein Beispiel, wo die Frauen an vorderster Front die Revolution verteidigen.
Wie sieht eure alltägliche Arbeit aus?
Hediya: Die HPC organisieren die Verteidigung der Gesellschaft. Bei den HPC Jin sind Mädchen und Frauen im Alter von sieben bis siebzig. Kinder machen Kickboxen oder lernen sich gegen Gefahren aus dem Internet zu schützen. Den Erwachsenen und Jugendlichen geben wir militärischen Unterricht, halten Wache an den Kontrollpunkten und sind verantwortlich für die Sicherheit bei Festen, Demonstrationen, Trauerfeiern und Beerdigungen. Auch die Sicherheit in den Kommunen gehört zu unserem Aufgabenbereich. Wir arbeiten eigentlich in unserem Stadtteil und sind immer in Bereitschaft. Zusätzlich machen wir auch jede Nacht Wachgänge in der Stadt, sowohl in der ganzen Stadt als auch in unserem Stadtteil. Alle unsere Mitglieder sind Freiwillige, das heisst wir bekommen keinen Gehalt. Darum ist die uns gegenüber auch sehr gross. Doch nicht alle Mitglieder arbeiten hier im Zentrum, für manche wäre es ein grosser Schritt, mit unserer Weste und der Waffe heraus zu gehen. Aber sie sind aktive Mitglieder und in den Kommunen organisiert und wenn es dort Probleme gibt, dann kriegen wir das mit und reden dann mit der Familie.
Selamet: Es gab zum Beispiel in meinem Viertel eine alevitische Frau, deren Mann ihr verboten hat, das Haus zu verlassen. Ich habe lange mit ihm geredet, er hat dann eingesehen, dass er im Unrecht ist. Grundsätzlich wird versucht, einen Gefängnisaufenthalt zu verhindern. Wir haben ganz viele Strukturen der Gesellschaft, wie eine Gerechtigkeitskomission, eine Verständigungskomission oder «Frauenhäuser», die versuchen, das Problem auf dieser Ebene anzugehen. Wir versuchen eben, die Dinge in der Gesellschaft selbst zu lösen.
Hat sich mit dem drohenden Krieg eure Aufgabe verändert? Inwiefern?
Hediya: Im Krieg ist es so, dass die YPG/YPJ raus geht in die Kämpfe und an die Front. Die HPC ist hier vor Ort und sorgt für die Sicherheit der Gesellschaft und der Städte. Der Gedanke dahinter ist, dass eine kämpferische Gesellschaft aufgebaut wird, die auch auf den Krieg vorbereitet ist. Wir machen alle möglichen Vorbereitungen, zum Beispiel Tunnels oder Luftschutzkeller gegen Luftangriffe. Oder auch Nahrungsmittel, Wasser und Material gegen die Kälte werden organisiert. Wir sind dafür zuständig, dass die Stadtverwaltung im Kriegsfall weiter funktioniert, eventuell in einem Luftschutzkeller. Auch im medizinischen Bereich muss man vorbereitet sein. Wir organisieren Material und haben auch die Frauen geschult, beispielsweise wie man Spritzen setzt und erste Hilfe leistet. Wir sind bereit für alles.
Revolutionäre Mobilmachung bedeutet eine systematische Bewaffnung der Bevölkerung. Wie funktioniert das?
Selamet: Jede zivile Person bekommt eine viertägige Ausbildung an der Waffe. Dann zeigen wir einen Tag lang, wie die Waffen auseinander gebaut werden, diskutieren über theoretische Fragen zur Verteidigung und am Schluss fahren wir für einen Tag aufs Land, wo wir schiessen üben. Alle werden in ihren Institutionen ausgebildet, also zum Beispiel in der Stadtverwaltung oder im Bereich Kunst und Kultur. Die Mitglieder bilden dann Teams und Züge, sie sind also in militärischen Strukturen organisiert, die jederzeit zum Einsatz kommen können. Ein Team besteht aus vier Personen, ein Zug wiederum aus zehn, mit jeweils einem/einer KommandantIn.
Hediya: Wir als HPC wissen, wer wo ausgebildet wurde und wenn ein Angriff kommt, sind sie als organisierte militärische Einheiten bereit. Und so wird es möglich, dass die Gesellschaft nicht auf irgendwen angewiesen ist, sondern sich selber verteidigen kann. Was in Shingal passiert ist, soll sich nicht wiederholen. Speziell die Frauen bereiten wir auf so eine Situation vor, damit sie im Angriffsfall nicht wehrlos sind. Denn insbesondere die Frauen und die Jugend wollen die Gesellschaft verteidigen.
Ihr bestätigt unsere Erfahrung, dass die Entschlossenheit zur Verteidigung bei den Frauen besonders stark ist. Warum?
Hediya: Die Frauen haben in den Aufbau der Gesellschaft so viel Mühe gesteckt und darum ist der Reflex auch sehr stark, all das mit allen Mitteln zu verteidigen. Es ist auch so, dass die Frau am meisten Gewalt erlebt. Deshalb ist die Notwenigkeit sehr gross, dass die Frau sich selber zu verteidigen weiss. Wir haben vielleicht gerade einmal zehn Prozent unserer Rechte erkämpft. Ich als Frau sehe es als sehr grosse Chance in dieser Zeit zu leben, ein Teil der Revolution zu sein und diese mitzuprägen. Das ist für mich als Frau und Mutter sehr bedeutsam. Hier findet eine Revolution in der Revolution statt. Auf der einen Seite kämpfen wir gegen den Feind, der uns vernichten will, andererseits führen wir einen Kampf in der Gesellschaft selbst. Es ist ein revolutionärer Prozess auf vielen Ebenen und wir schaffen es immer mehr, dass die Gesellschaft sich nicht fürchtet, die Menschen nicht wegrennen, dass sie die Mühen erkennen, die in dieses Land gesteckt werden. Natürlich sind auch Menschen gegangen, aber wir haben es auch zu einem grossen Teil geschafft, den Menschen diese Kraft und Motivation zu geben, dass sie die Furcht überwinden und sich hier auf die Selbstverteidigung vorbereiten. In diesem Sinne haben wir sehr viele Ketten gebrochen. Und deswegen bin ich als Frau eine sehr stolze Frau. Ich mache Geschichte und schreibe sie. Heute hatten wir eine Ratsversammlung. Zwölf Frauen haben sich freiwillig gemeldet und gesagt, wir sind bereit mit der Waffe in der Hand gegen Erdogan zu kämpfen und auch in eine bewegliche Einheit an die Front zu gehen.
Die HPC Jin gab es nicht seit Anfang der Revolution. Warum ist sie entstanden?
Hediya: Die HPC Jin wurden 2014 aufgebaut, bis dahin haben diese Arbeit eher Männer gemacht. Wir haben gesehen, dass das nicht ausreicht. Frauen sollten auch an dieser Arbeit beteiligt sein. Es waren oft zu wenige Kräfte an den Kontrollpunkten, denn es gab durch den Krieg viele Verletzte. Deshalb wurde der Vorschlag gemacht, die HPC Jin aufzubauen. Direkt am Anfang beteiligten sich 47 Frauen. Ende 2015 wurde die Gründungskonferenz abgehalten, eine Leitung gewählt und eine eigene Fahne entworfen. Unsere Organisation ist nun vollkommen autonom, wir haben unsere eigene Struktur, eigene Munition und Logistik. Wir sind die Verteidigungsstruktur der Kommunen.
Wie reagierte die Familie auf euren Entscheid, Teil der HPC zu sein?
Selamet: Ich war erst in den gemischten HPC, dann in den HPC Jin. Meine Familie ist in der Bewegung aktiv, da war es kein Problem. Meine Kinder haben natürlich schon gefragt, ob ich keine Angst an der Waffe hätte. Die Familien stellen sich oft gegen die Frauen. Sie kennen es so, dass der Mann die Frau verteidigt. Dadurch gewinnt der Mann Bedeutung. Obwohl Frauen in der Gesellschaft für alles verantwortlich sind, ist das in den Köpfen drin. Es wollen viele Frauen Teil der HPC Jin sein, aber sie sind zum Teil nicht genug entschlossen gegenüber ihren Familien und haben nicht die Kraft ihre Entscheidung zu verteidigen.
Und was sagen die Männer?
Anfangs haben die Männer über uns gelacht. Sie haben gesagt: «Diese älteren Frauen, Mütter, was können sie ausrichten? Sie fürchten sich doch selbst.» Im Kampf gegen den IS um die Stadt al-Haul 2015 wurden die HPC um Unterstützung gebeten. Von 300 Männern haben sich nur zwei gemeldet. Von uns 45 Müttern haben alle vorgeschlagen, sich zu beteiligen, um diese Schlacht zu unterstützen und unseren Truppen zu helfen. Zwölf Frauen haben wir dann auch geschickt. Wir haben gleich gesagt, dass wir uns autonom organisieren wollen, sonst behaupten die Männer später, sie hätten die ganze Arbeit gemacht. Und eben dadurch haben wir uns einen Respekt in der Bevölkerung verschafft. Wir haben uns also das Vertrauen in uns selbst erkämpft! Und die Männer haben das dann irgendwann auch verstanden, weil es einfach um sie herum passiert ist, weil sich die Frauen auf allen Ebenen in der Praxis beweisen, als Kämpferinnen, aber auch als Politikerin oder in der Wirtschaft. Heute ist es auch so, dass wenn wir auf der Strasse gehen, die Männer nun zur Seite gehen, weil wir diese Haltung, diesen Gang haben und sie den Respekt vor uns entwickelt haben. Durch unser Selbstbewusstsein und durch unsere Klarheit, dass wir das alles selber aufgebaut haben, haben wir eine starke Ausstrahlung.
Welche Auswirkungen haben die Kriegsdrohungen?
Wir sind jetzt acht Jahre in dieser Revolution und in diesem Krieg. Wir essen, trinken, wir kriegen Kinder. Wir arbeiten, wir kämpfen und gleichzeitig bauen wir auf. Der Krieg kommt, der Feind macht es kaputt und wir bauen es wieder auf. Seit acht Jahren machen wir das. Eine Hand ist so immer mit der Waffe an der Front und eine andere Hand ist in der Gesellschaft und schaut, dass wir keine Nöte haben. Wir müssen auf der einen Seite unser Land verteidigen für alle Völker, die hier leben – also nicht nur für KurdInnen – aber wir müssen auch unser eigenes Gedankengut gegen den Krieg verteidigen. Auch mit einer kapitalistischen Mentalität wollen sie uns angreifen. Sie wollen, dass wir uns vom Kampf abwenden, daher ist Rojava/Nordsyrien auch immer noch nicht politisch anerkannt. Man greift uns auf allen Ebenen an. Wir müssen auch an vielen Fronten gleichzeitig kämpfen, gegen die Angriffe von aussen und innen, wir müssen die grundlegendsten Bedürfnisse befriedigen, damit die Bevölkerung nicht wegläuft. Wir haben schon sehr viele Menschen verloren. Aber wie ihr seht, wurde hier an Neujahr überall gefeiert, trotz der Angriffsdrohungen durch Erdogan halten wir zusammen. Das ist nicht selbstverständlich. Meine Kinder sind jetzt gross, ich bin bereit für alles.