Ismail Küpeli. Im Osten der Türkei herrscht Krieg, im Westen Repression. Europa und Deutschland unterstützen trotzdem noch immer das AKP-Regime, damit dieses die Flüchtenden aus Syrien im Land zurückhält.
Im östlichen Teil der Türkei, in den kurdischen Gebieten, herrscht ein offener Krieg. Inzwischen reden alle BeobachterInnen von einem Krieg, während bis Dezember letzten Jahres davor vielfach ein Fragezeichen gesetzt wurde. Inzwischen ist dieses Fragezeichen weggefallen. Inzwischen wird wahrgenommen, dass in den kurdischen Städten Panzer, Artillerie, Scharfschützen eingesetzt werden, es wird wahrgenommen, dass wir Hunderte von zivilen Opfern haben. Das heisst, im Osten des Landes gibt es einen offenen Krieg.
In den andern Teilen des Landes, also in den nicht kurdischen Gebieten, in der Westtürkei, kann man nicht von einem offenen Krieg sprechen. Es gibt zwar dort auch immer wieder gewaltsame Auseinandersetzungen, es gibt auch in den westlichen Städten Anschläge von kurdischen Kräften. Dort ist die Situation aber eher gekennzeichnet durch die autoritäre Repression des Regimes gegenüber allen Oppositionskräften. Das ist etwas anderes als ein offener Krieg. Aber es ist trotzdem kein demokratischer Zustand, kein friedlicher Zustand. Was dort stattfindet, ist, dass das AKP-Regime, und man muss in der Zwischenzeit wirklich von einem Regime reden, gegen alle verschiedenen Oppositionskräfte vorgeht. Viele JournalistInnen sind verhaftet worden, viele WissenschaftlerInnen drohen verhaftet zu werden. Das heisst, im ganzen Land kann man von einer sehr autoritären Repression reden und in den kurdischen Gebieten von einem offenen Krieg.
Flucht trotz Risiko
Der Westen oder, um es konkret zu sagen, Deutschland im Zentrum unterstützt die Türkei hauptsächlich wegen der sogenannten Flüchtlingsfrage. Die Hoffnung Deutschlands oder der Europäischen Union ist, dass man die syrischen Flüchtlinge, die man eben nicht hier haben will, durch die Türkei zurückhalten kann. Die Türkei soll gewissermassen den Türsteher der Festung Europa spielen und die syrischen Flüchtlinge zurückhalten. Aber diese Rechnung wird nicht aufgehen. Die Lebensumstände der syrischen Flüchtlinge sind so schlecht, dass sie auch in Zukunft versuchen werden, nach Europa zu kommen. Man muss sich nur anschauen, wie die Menschen jetzt in den Wintermonaten versuchen, über die Ägäis in Schlauchbooten nach Griechenland zu fliehen, und dabei massenweise ertrinken. Sie alle wissen schon, bevor sie diese Boote besteigen, dass das Risiko sehr hoch ist, und trotzdem nehmen sie es auf sich. Das heisst, die Lebensumstände sind so schlecht, dass selbst ein solche risikoreiche, lebensgefährliche Flucht ihnen notwendig scheint.
Für die sozialen Bewegungen ist es in einer solchen Kriegssituation sehr schwierig. Es gibt in der Türkei eine Vielzahl von Bewegungen. Insbesondere die Frauenbewegung ist sehr stark und auch aktiv. Aber auch die LGBT-Bewegung wurde gerade nach den Gezi-Protesten auch öffentlich mehr akzeptiert. Sie ist ein weiteres Beispiel für eine Bewegung, die nach wie vor da ist und ihre Position halten kann. Es ist normal geworden, dass LGBT-VertreterInnen auch in den Parteien und Gewerkschaften offen auftreten und als solche kandidieren können. Das war bis vor wenigen Jahren eigentlich nicht vorstellbar. Das Schwierige dabei ist, dass jegliche Form von Protest und Opposition auf der Strasse von der Regierung mit Repression beantwortet wird. Wenn du auf die Strasse gehst, um zu protestieren, dann drohst du erschossen zu werden und ganz sicher wirst du verhaftet. Das entzieht natürlich jeglicher Art von sozialer Bewegung die Räume, die man sich in Zukunft mühsam wieder erkämpfen muss. Viele Bewegungen, die eigentlich andere Punkte auf ihrer Agenda haben, müssen sich mit solchen allgemeinpolitischen Themen beschäftigen. Die Situation hat einigende Momente, aber führt auch dazu, dass gerade diese Ein-Punkt-Bewegungen ihre Interessen vorerst nicht verfolgen können.
Quelle: Interview mit Neues Deutschland