Die Schweiz hat ein massives Problem im Bereich Gewalt gegen Frauen und Mädchen, so schreibt TERRE DES FEMMES Schweiz. Die Zahl der Tötungsdelikten liegt bei 27 Fällen, wobei 24 Opfer Frauen oder Mädchen sind. Ein Interview mit Angela Pertinez.
2018 wurde in der Schweiz im Rahmen von häuslicher Gewalt alle zwei Wochen eine Person getötet. Es gab einen Anstieg um einen Drittel gegenüber dem Vorjahr. Betroffen von der Gewalt sind zum grössten Teil Frauen und Mädchen. Nach der polizeilichen Kriminalstatistik 2018 waren 18 522 Straftaten im Bereich häusliche Gewalt passiert. Doch es werden nicht alle Gewalttaten polizeilich erfasst, die Dunkelziffer ist gross. Als Konsequenz fordert die Organisation Terre des femmes Schweiz, dass endlich Massnahmen gegen Gewalt an Frauen umgesetzt werden. Schon lange besteht die Verpflichtung – sicher aber seit 2018 mit der Ratifizierung der Istanbul-Konvention (dies ist die Europaratskonvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen* und häuslicher Gewalt). Sie hat das Ziel, diese Art von Kriminalität zu verhindern und zu verfolgen. Zusätzlich will sie einen Beitrag zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau leisten und die Gleichstellung von Mann und Frau fördern.
Die Vertragsstaaten müssen namentlich psychische, physische und sexuelle Gewalt, Stalking, Zwangsheirat, Verstümmelung der weiblichen Genitalien, Zwangsabtreibung und Zwangssterilisierung strafbar erklären. Auch präventive Massnahmen sind zu planen. Opfer müssen geschützt und unterstützt werden mit beispielsweise Schutzunterkünften oder Beratung. Die Umsetzung in der Schweiz wird durch eine unabhängige Expertengruppe überwacht.
Bei der Gleichstellung wird gespart
Angela Pertinez von der Menschenrechtsorganisation, die sich für die Gleichstellung der Geschlechter einsetzt und geschlechtsspezifische Gewalt bekämpft, geht im Rahmen eines Kurzinteviews mit dem vorwärts näher auf das Problem und mögliche Strategien zur Lösung ein.
Alle zwei Wochen ist 2018 in der Schweiz im Rahmen von häuslicher Gewalt eine Person – grösstenteils Frauen und Mädchenn – getötet worden: Sind die Zahlen gestiegen?
Zwischen 2009 und 2018 wurden zwischen 19 und 36 Personen getötet. In dem Sinne liegt die Zahl 2018 innerhalb dieser Schwankungen. Das eigentlich Beunruhigende und auch Inakzeptable ist, dass die Zahlen nicht endlich spürbar sinken.
In welcher Form passiert diese Gewalt und an welchen Folgen sterben die Frauen?
Hier geht es ja um häusliche Gewalt, meist Gewalt zwischen Familienmitgliedern und fast immer Gewalt an Frauen. Von den 27 Opfern im 2018 waren 24 Frauen und/oder Mädchen. Frauen sterben also auch in der Schweiz, weil sie Frauen sind. Das darf nicht sein. Woran genau die Frauen und Mädchen sterben, weiss ich nicht.
Im Spanien spricht man von «Femiziden» – warum hat sich dieser Begriff hier nicht durchgesetzt?
Tötungsdelikte innerhalb einer Familie werden gerne als «Familientragödie» oder «Beziehungstat» umschrieben. Damit wird die Verantwortung des Täters verschleiert. Femizid ist aber der Begriff, der bei der Tötung einer Frau zur Anwendung kommen sollte. Er deckt die Geschlechtsspezifik der Tat ebenso ab wie die Gewalt an Frauen. Die ist nämlich keine Folge einer Liebesbeziehung, sondern Teil einer patriarchalen Gesellschaft. Und gerade deshalb setzt sich der Begriff Femizid wohl auch nicht durch.
Welche Massnahmen gegen Gewalt an Frauen müssen sofort umgesetzt werden?
Grundsätzlich müssen wir endlich die tatsächliche Gleichstellung der Geschlechter angehen. Solange Gleichstellung nicht echt und umfassend umgesetzt ist, wird Gewalt an Frauen kein Ende nehmen. Da ist viel Präventionsarbeit nötig wie durch Sensibilisierungskampagnen beispielsweise. Schulen sollten das Thema stärker in Lehrpläne und Unterrichtsmaterialien einfliessen lassen. Doch gerade bei der Gleichstellung wird gespart.
In welcher Form kann die Istanbul-Konvention, eingesetzt werden?
Mit der Istanbul-Konvention hat sich der Bund verpflichtet, auf allen Ebenen Massnahmen gegen Gewalt gegen Frauen und gegen häusliche Gewalt zu ergreifen und sie konsequent und mit genügend Ressourcen umzusetzen. Vier Hauptstützen sind hier zu nennen: Prävention, Opferschutz, Strafverfolgung und ein koordiniertes Vorgehen.