Weder ging es beim versuchten Militärputsch vom 15. Juli, noch bei dessen Abwehr durch die AKP-Regierung, um die Wiederherstellung von demokratischen Grundrechten. Und seither werden alle, die nicht genau auf AKP-Linie sind, noch stärker als Todfeinde und «TerroristInnen» angesehen, seien sie nun kurdische AktivistInnen, AkademikerInnen für den Frieden, LGBTI-AktivistInnen oder kritische JournalistInnen.
Am Abend des 20. August feiert ein kurdisches Paar mit FreundInnen und Verwandten in einem linken Quartier der Stadt Gaziantep ihre Hochzeit unter freien Himmel. Mehrere hundert Gäste sind gekommen. Um 22.50 Uhr die Explosion, mitten in der Feier, mitten im Tanzen. 50 Toten und fast 100 Verletzte heisst die traurige Bilanz bei Redaktionsschluss des vorwärts.
Und was macht der türkische Staat? Als erstes Twitter verlangsamen, eine Nachrichtensperre über den Anschlag verhängen und die Opfer verunglimpfen. In einer Mitteilung der regierungsnahen News-Agentur Anadolu sagte Präsident Tayyip Erdogan, dass die Täter das türkische Volk zu provozieren versuche. Er mache, so liess es sich weiter zitieren, keinen Unterschied zwischen der kurdischen Untergrundorganisation PKK, der Bewegung des Predigers Fetullah Gülen und dem IS. Erdogan schafft es so einmal mehr, die Opfern, die der kurdischen Bewegung angehören, den Tätern gleichzusetzen. Der Ministerpräsident Binal Yildirim doppelte nach: «Egal, wie diese verräterische Terrororganisation genannt wird, wir als Volk, als Staat und als Regierung werden unseren Kampf gegen sie fortsetzen». Wie das läuft, wissen die KurdInnen nur zu gut: Der IS greift an, die Türkei kündigt erbarmungslose Vergeltung an und bombardiert dann wahlweise Städten im Südosten der Türkei, kurdische Stellungen in den Qandil-Bergen in Irak-Kurdistan oder in Rojava.
IS greift gezielt KurdInnen an
Eigentlich ist klar: Die Tat tragt die Handschrift des selbsternannten «Islamischen Staates» (IS). In der Nacht auf Sonntag erklärte ein HDP-Parlamentarier, dass sie die türkische Regierung mehrmals über die Bedrohungen durch den IS gewarnt hatten, diese jedoch nicht ernst genommen wurden. Ausserdem wurden in der Wohnung vom Yunus Durmaz in Gaziantep Dokumente sichergestellt, nachdem er sich diesen Mai bei einer Polizeirazzia in die Luft gejagt hatte. Darin stand unter anderem, dass man den Krieg gegen die KurdInnen und AlevitInnen in der Türkei anheizen soll, und dass kurdische Hochzeiten ein ideales Anschlagziel seien. Auch das war kein Grund für den türkischen Staat Massnahmen zu ergreifen. Genauso wenig wie er es für nötig befunden hatte, den Selbstmordanschlag auf die Friedensdemo in Ankara am 10. Oktober 2015 aufgrund von Hinweisen zu verhindern zu versuchen, und somit wissentlich der Tod von 102 Personen in Kauf nahm. Ahmet Davutoglu, der damalige Ministerpräsident, meinte lapidar, man könne in einem Rechtsstaat nicht jeden Verdächtigten präventiv verhaften, man müsse schon warten, bis er zur Tat schreite. Diese Aussage ist nicht nur deshalb zynisch, weil die abzuwartende Tat einen Selbstmordanschlag ist und somit der Täter anschliessend tot, sondern weil bereits im Sommer und Herbst 2015 die AKP-Regierung nicht zögerte, kurdische und weitere linke AktivistInnen zu verhaften, nur weil sie Kritik geäussert hatten oder das tun könnten.
Bis jetzt hat sich der IS nie zu einem Anschlag in der Türkei bekannt – doch wurden sie von den gleicher Zelle verübt. So war einer der Selbstmordattentäter von Ankara der Bruder vom Selbstmordattentäter von Suruc am 20. Juli 2015, bei dem 34 linke AktivistInnen starben. Yunus Durmaz galt als der Drahtzieher beider Anschläge. Auffallend ist auch, dass in erster Linie die kurdische Linke und ihre UnterstützerInnen Ziel der Anschläge waren, was der AKP-Regierung wohl ganz recht war. Es muss nicht unbedingt eine türkische IS-Zelle sein, die den Anschlag vom 20. August verübt hat – denkbar wäre auch, dass die Täter IS-Kämpfer aus Syrien sind, die vor kurzem oder längerem nach Gaziantep geflüchtet sind, und nun aus Rache für die Befreiung von Manbij gehandelt haben. Gaziantep gilt schon lange als wichtige Drehscheibe und zentrale Route des IS für europäische Kämpfer nach Syrien.
Frieden den Hütten, Krieg den Palästen…
Dabei wünschen sich die Menschen im Südosten der Türkei nichts sehnlicher als Frieden. Am 20. August, also wenige Stunden vor dem Anschlag in Gaziantep, veröffentlichte die «Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans» (KCK) eine längere Stellungnahme, die auf Englisch bei der kurdischen Nachrichtenagentur ANF nachzulesen ist (www.anfenglish.com/kurdistan/historic-declaration-by-kck-it-is-the-turkish-state-that-must-take-a-step). Die KCK erklärt darin einmal mehr ihre Bereitschaft für einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen. Sie betont aber auch, dass der Ball bei der AKP-Regierung liege, die zuerst ihren Willen zeigen muss, indem sie konkrete, durch die KCK aufgelistete Schritte macht, anstatt wie in der Vergangenheit, die Friedensverhandlung für ihre eigene Agenda zu instrumentalisieren. Ein Punkt darin ist, dass die totale Isolationshaft von Abdullah Öcalan, der seit über 15 Monaten keinen Besuch mehr erhalten durfte, endlich gebrochen wird.
Als das Militär versuchte zu putschen, distanzierte sich die HDP sofort. Sie wurde jedoch im Gegensatz zu den anderen Oppositionsparteien zu keinen Gesprächen oder Kundgebungen eingeladen. Als Erdogan versprach, die vielen Verfahren wegen Präsidentenbeleidigung einzustellen, fügte er an, dass dies für die HPD nicht gelte. Die kurdische Bewegung wusste sehr wohl, dass, wenn ein Militärputsch in der Türkei gelingen würde, dies nichts Gutes für sie bedeuten würde. Doch sie wusste genauso, dass der gescheiterte Coup keine Alternative darstellt. In einem Pressecommuniqué schrieb die HDP am 21. Juli: «Die regierende Partei (AKP) hat sich entschieden, den Hass der Massen für ihren eigenen politischen Gewinn auszunutzen. Die historische Gelegenheit wurde verpasst, auf der Grundlage eines sozialen und demokratischen Konsens gegen den Putsch vorzugehen. Den Ausnahmezustand jetzt zu feiern halten wir für inakzeptabel. Die Schritte der AKP, um die absolute Macht zu erlangen und die ‚Ein-Mann-Herrschaft‘ mit Hilfe des Ausnahmezustands zu etablieren, wird unser Land auf einen noch schmerzhafteren Weg führen.»
Dieser Ausnahmezustand ist in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei seit einem Jahr Alltag. Die türkische Armee zögerte nicht, die Bevölkerung wochenlang mit schwerer Artillerie zu bombardieren und ganze Städte wortwörtlich dem Erdboden gleich zu machen, in der naiven Hoffnung, den Widerstand der kurdischen Bevölkerung zu brechen (siehe auch Artikel «Kurdischer Frühling» im vorwärts-Ausgabe 15/16 vom 26. April 2016).
Gemeinsam gegen Hassverbrechen
Die Rhetorik von Erdogan ist schon lange brutal und gewaltverherrlichend. Seit dem Putschversuch ist der Ton noch schärfer. Erdogan bringt die Todesstrafe in die Debatte ein, seine Anhänger brüllen bei jeder Gelegenheit, dass sie bereit seien für ihn zu sterben. Erdogan und die AKP schaffen so ein Klima der Angst und schüren bewusst den Hass in der Gesellschaft. Dies bereitet den Weg zu weiteren Verbrechen gegen alle, die nicht ins reaktionäre Bild passen. Am 12. August wurde die LGBTI-Aktivistin Hande Kader in Istanbul vergewaltigt und verbrannt. Die 23-jährige Transgender-Frau wurde keine drei Wochen nach Muhammed Wisam Sankari ermordet. Die türkische LGBTI-Organisation Kaos GL erklärte, dass Sankari, der 2015 als Flüchtlinge in die Türkei kam, entführt, gefoltert und geköpft wurde, weil er schwul war. Sein Körper war dermassen entstellt, dass seine Freunde ihn nur noch an den Kleidern erkennen konnten.
Auch wenn LGBTI-Menschen gesetzlich nicht verfolgt werden, so sind Diskriminierungen und Gewalt bis hin zu Mord keine Seltenheit in der Türkei. Die Gay Pride wurde diesen Juni – wie bereits 2015 – verboten und die vielseitigen Protestaktionen, die dennoch stattgefunden haben, wurden durch massive Repression gestört. Hande Kader gehörte zu jenen Menschen, die sich nicht einschüchtern liessen und Jahr für Jahr auf die Strasse gingen. Nun wurde sie ermordet. Die OrganisatorInnen der Pride riefen zu einer Demo am 21. August auf, damit die Stimme Hande Kader weiterhin gehört wird. In ihrem Aufruf schreiben sie: «Wir fordern Gerechtigkeit für alle, die ihr Leben verlieren mussten, sei es weil sie eine Frau, transgender oder schwul waren. Wir wissen, dass die Leute, die Hande Kader zu Tode verbrannten, dazu inspiriert wurden durch diejenigen, die Menschen bei lebendigem Leib in Maraş, Madımak, Cizre(kurdische Städte) verbrannten. Wir wiederholen nochmals, dass die einzige Möglichkeit Hassmorde zu verhindern ist, gemeinsam unsere Stimmen gegen solche Morden zu erheben.» Das «Pride Week Comitee» macht so den Link zwischen den Kriegsverbrechen durch den türkischen Staat in den kurdischen Gebieten und den Gewaltverbrechen zwischen den Pogromen gegen die alevitische Bevölkerung in der Vergangenheit, den Kriegsverbrechen in den kurdischen Gebieten heute und den Gewaltverbrechen in der türkischen Gesellschaft.
Solidarität jetzt sofort!
Die linke prokurdische Tageszeitung «Özgür Gündem» wurde am 16. August per Gerichtsbeschluss verboten. Der Chefredaktor Zana Kaya sagte zum Nachrichtenportal Civaka Azad: «Bereits vor Ausrufung des Ausnahmezustands im Lande war unsere Zeitung schweren Angriffen ausgesetzt. Wir haben hierauf mit einer Solidaritätskampagne reagiert und konnten so einen grossen Teil der Angriffe abwehren. Allerdings hat die Regierung den gescheiterten Putschversuch zum Anlass genommen, um auf Grundlage der Ausnahmezustandsregelung gegen alle oppositionellen Medien vorzugehen. Der heutige Gerichtsbeschluss ist der Beweis hierfür.» Noch am selben Tag wurden Zana Kaya sowie 23 weitere JournalistInnen verhaftet, die meisten wurden nach zwei Tagen wieder freigelassen. Nicht so Aslı Erdogan. Die bekannte türkische Autorin war Kolumnistin bei «Özgür Gümden». Ihr wird vorgeworfen, Propaganda für die PKK zu machen. Es ist nicht das erste Mal, dass sie verhaftet wird – Frauen wie sie sind für die AKP unerträglich. In einem offenen Brief aus dem Knast schrieb sie am 20. August, «Sie versuchen uns alle in einem grossen Gefängnis zu sperren. Dieses Land verliert den letzten Rest an Gewissen – aber es gibt uns noch; wir sind da und wir schreiben.»
Bis jetzt blieb die Solidarität im Westen eher verhalten. Von den Staaten und Regierungen ist nichts zu erwarten, zu sehr sind sie auf Erdogan als Torhüter Europas angewiesen und zu wichtig sind ihnen die wirtschaftlichen Verbindungen mit der Türkei. Umso wichtiger ist es, die Solidarität zwischen fortschrittlichen Kräften dort und hier zu verteidigen und weiter zu stärken. Es gibt eine linke, kämpfende Bewegung in Kurdistan und der Türkei, die auch jetzt nicht zurückweichen, sondern weiterhin für mehr Autonomie vom türkischen Zentralstaat kämpfen wird. Lasst uns sie unterstützen und ihre Kämpfe mit den unsrigen verbinden!