Auch mit diktatorialen Mitteln und Wahlbetrug kam Erdogan beim Referendum vom 16. April in der Türkei kaum über 51 Prozent Zustimmung für seine Diktatur. Einer seiner Hauptbündnispartner, die faschistische MHP, droht wegzubrechen. Das Grosskapital ist in Panik. Die Menschen gingen zu Zehntausenden aus Protest auf die Strasse.
Das Ergebnis des Referendums in der Türkei vom 16. April kam unerwartet. Laut bisherigen offiziellen Ergebnissen gewann das Ja-Lager mit einer marginalen Mehrheit von knapp 51 Prozent gegenüber 49 Prozent des Nein-Lagers. Der Haken an der Angelegenheit: Das eh schon sehr knappe Wahlergebnis kam nur aufgrund massiver Wahlfälschung zustande. Die Hauptoppositionsparteien Republikanische Volkspartei (CHP) und Demokratische Partei der Völker (HDP), aber auch die internationalen BeobachterInnen der OSZE, zivilgesellschaftliche Organisationen wie Hayir ve Ötesi oder die Anwaltskammer der Türkei halten allesamt einstimmig fest: Mindestens 1,5 bis 2,5 Millionen Stimmen wurden auf irreguläre oder rechtswidrige Art und Weise abgegeben. Das wären immerhin 4 bis 5 Prozent aller abgegebenen Stimmen und damit wahlentscheidend.
Die Spitze der Hegemoniekrise
An oberster Stelle der sehr langen Liste der Wahlfälschungen rangiert dabei die noch während der Auszählung der Wahlergebnisse getroffene rechtswidrige Entscheidung der Hohen Wahlkommission (YSK), auch Wahlzettel und -briefe als gültig zu zählen, die nicht den offiziellen Stempel des YSK trugen. Laut Gesetz ist das nicht möglich und noch zwei Stunden vor dieser Entscheidung hielt der YSK in einer anderen schriftlichen Entscheidung klipp und klar fest, dass der offizielle Stempel «dem Zweck dient, Wahlbetrug auszuschliessen». Zusätzlich werden mittlerweile Hunderte von Fällen reklamiert, wo die öffentliche Auszählung von anwesenden Militärs oder anderen Sicherheitskräften verhindert oder «en bloc» gewählt wurde (Wahlurnen mit 100 Prozent und sogar höherer Wahlbeteiligung mit fast 100 Prozent Ja-Stimmen). Auffällig ist zudem, dass die Ja-Stimme plötzlich in HDP-Hochburgen weitaus besser abschnitt als die AKP dort jemals Stimmen bekam. Das sind dann ganz zufälligerweise auch Wahlgebiete gewesen, wo aufgrund Repressionen besonders oft keine anderen Wahlbeobachter-Innen anwesend sein konnten ausser AKP-WahlbeobachterInnen. Generell ist es der Fall, dass fast alle irregulären oder rechtswidrigen Stimmabgaben aus den kurdischen Gebieten gemeldet werden.
Dass trotz solcher massiver Wahlfälschung und dem exzessiven staatlichen Terror der Monate zuvor das Ja-Lager dennoch nur äusserst knapp mit 51 Prozent siegen konnte, ist ein Schlag ins Gesicht für Erdogan, der sich das Ganze als Heimspiel und als juristische Fassade für seine Diktatur ausgemalt hatte. Mit diesen 51 Prozent wird es der Diktator enorm schwierig haben. Denn das Referendum war nicht einfach irgendeine normale bürgerliche Volksabstimmung, wie es sie zum Beispiel in der Schweiz immer mal wieder gibt. Das Referendum in der Türkei war die bisherige Spitze der tiefen Hegemoniekrise in der Türkei und ebenfalls die Spitze der autoritären Versuche, die Hegemoniekrise zu überwinden. Die Einführung des Präsidialsystems, das offensichtlich ein diktatoriales ist und sich mit keinem anderen in der Welt existierenden Präsidialsystem vergleichen lässt, wird Erdogan als Präsidenten eine immense Machtkonzentration verleihen, die sonst nur faschistische Staatslenker besitzen. Und sollte Erdogan mal verlieren oder sterben, dann wird das diktatoriale System bleiben und der nächste Diktatur zur Wahl stehen.
Fast alle Grossstädte verloren
Es ging bei diesem Referendum also um die Zukunft des gesamten Landes. Und die 49 Prozent, die mit Nein abstimmten, wissen das und lehnen das System auf das Entschiedenste ab. Erdogan wird weiterhin der aktive, aber auch passive Konsens von mindestens der Hälfte der Bevölkerung für seine diktatorialen Gelüste fehlen. Auf Schritt und Tritt werden diese Menschen weiter dagegen ankämpfen und das diktatoriale System als illegitim begreifen.
Was das angeht, hat dieses Referendum nochmal Folgendes gezeigt: Zum ersten Mal hat die AKP fast alle zentralen Grossstädte, die die politischen, kulturellen und ökonomischen Zentren der Türkei bilden, verloren. Besonders hervorzuheben ist hier Istanbul. Jede neue Macht in der Türkei etabliert sich über die «Eroberung» von Istanbul. Auch der Aufstieg der AKP begann damit, dass Erdogan in den Neunzigern zum Bürgermeister von Istanbul gewählt wurde. Zum ersten Mal hat die AKP Istanbul verloren: Es obsiegte das Nein. Sie verlor sogar klassisch islamische Zentren in Istanbul wie die Stadtteile Üsküdar und Fatih. Dasselbe gilt von der Hauptstadt Ankara, aber auch von so zentralen Hafenstädten wie Izmir, Adana, Antalya und Mersin. Von den Grossstädten konnte die AKP diesmal nur Antep, Konya, Bursa und Kocaeli halten. Einem Faschismus, der die Zentren des Landes nicht kontrollieren kann, wird die Machtbasis über früh oder lang wegbrechen.
Zum anderen konnte die AKP trotz permanentem Krieg, kolonialer Herrschaftsmethoden und ausufernder Repression den kurdischen Südosten nicht für sich gewinnen. Es stimmt zwar, dass mehr Ja-Stimmen aus den kurdischen Gebieten im Vergleich zu Stimmen für die AKP bei den Wahlen der letzten Jahre kamen. Da aber mit höchster Wahrscheinlichkeit der Grossteil des Wahlbetrugs ebenfalls in den kurdischen Gebieten lokalisiert ist, relativiert sich das. Mit grosser Wahrscheinlichkeit haben KurdInnen genau so gewählt, wie in den letzten Jahren auch: unmissverständlich eindeutig gegen Erdogan. Es zeigt sich erneut glasklar: Mit Krieg, Kolonialismus und Repression lassen sich die Köpfe und Herzen der KurdInnen nicht mehr gewinnen.
Weniger Legitimation von rechts
Aber nicht nur «von unten» her wird Erdogan weiterhin grosse Probleme haben. Auch «von oben» aus ist die Stabilität seiner Herrschaft weiterhin äusserst fragil.
In erster Linie in Anbetracht der innerstaatlichen Bündnisse, die er zwecks Machterhalt schmieden musste. Die Medien präsentieren zwar Erdogan als den alleinigen, übermächtigen Herrscher. Aber auch er muss sich auf andere Kräfte verlassen. Zum Beispiel auf die faschistische Partei der Nationalen Bewegung (MHP) zwecks Mobilisierung des nationalistischen Lagers, aber auch, weil die MHP wichtige Teile des Militärs und der Paramilitärs stellt. Die Wahlallianz zwischen AKP und MHP erwies sich als desaströs: Fast die gesamte MHP-Basis wählte mit Nein und die Partei steht kurz vor der Spaltung, da eine Minderheit um die ehemalige Innenminister-in Meral Aksener der derzeitigen MHP-Führung und ihrem Bündnis mit der AKP den Kampf angesagt hat. Ohne eine starke MHP bricht der AKP aber noch mehr Legitimation im rechten Lager wie auch im Staat weg.
Die andere wichtige Partei ist die Vaterlandspartei (VP) des ehemaligen Maoisten, nun Rechtsaussen Dogu Perinçek. In der VP sind ehemalige hochrangige StaatsbürokratInnen aus dem Militär, der Justiz und den Geheimdiensten organisiert. Sie unterhalten exzellente Beziehungen zu Russland und Syrien und waren deshalb äusserst wichtig für die AKP. Die VP hat beim Referendum für ein Nein geworben.
Grosskapital ist beunruhigt
Ebenfalls führte die aussenpolitische Hybris des Staatschefs Erdogan zu einem wahrnehmbaren Rückgang der Unterstützung seitens seiner Hauptalliierten aus dem Westen. Zum Ergebnis gratulierte ihm niemand aus dem Westen. Im Gegenteil: Die USA liessen verkünden, dass sie auf den abschliessenden Wahlbericht der OSZE warten, Frankreich und Deutschland sprachen von einer stark polarisierten Gesellschaft. Die OSZE hingegen veröffentlichte einen Vorabbericht, der massive Irregularitäten während der Wahl beklagte, und verlangte letztlich eine Neuauszählung der Stimmen. Es ist klar: Der Westen und die internationalen Institutionen des Kapitalismus problematisieren Erdogan nicht wegen ihrer Liebe zu den Menschenrechten. Jahrelang haben sie Erdogan gestützt. Jetzt aber verselbständigt er sich so sehr, dass sie ihn dazu ermahnen, wieder auf Linie zu kommen.
Die aussenpolitischen Krisen und die allgemeine politische Instabilität beunruhigt das Grosskapital mittlerweile immens. Ein Zerwürfnis mit dem Westen können sie sich nicht leisten: 80 Prozent des Auslandsdirektinvestitionsbestands kommen aus der EU, Europa ist nach wie vor Hauptimport- wie -exportmarkt der Türkei. Grössere Kapitalinvestitionen in der Türkei werden fast ausschliesslich mit ausländischer Partnerschaft getätigt und die AKP-nahen Holdings, die auf die Bauwirtschaft fokussiert sind, stehen hoch in ausländischen Währungen in der Kreide.
Ein bankrotter Kurs
Trotz des Umstandes, dass Erdogans Hegemonie schon vor dem Referendum brüchig war, er mit diktatorialen Mitteln und Wahlbetrug dennoch kaum über 51 Prozent Zustimmung für seine Diktatur erhielt, einer seiner Hauptbündnispartner, die MHP, abzubrechen droht und das Kapital panisch ist, erklärte sich Erdogan zum Sieger. Er verkündete stolz, dass er die Todesstrafe wieder einführen werde, sprach von der «Kreuzfahrermentalität des Westens und den Angriffen seiner Schergen im Inland», machte sich über die Opposition lustig und bezeichnete die OSZE-Delegation als «Repräsentanten von Terrororganisationen».
Wenn Erdogan mit seinem bankrotten Kurs so weiter machen sollte wie bisher, wird schon recht bald die nächste Krise anstehen. Die Frage ist aber nicht, ob eine Krise kommt, sondern was für eine Krise kommt und wohin sie sich entwickeln wird. Das werden massgeblich die Kräfteverhältnisse entscheiden. Sofort in den ersten Tagen nach dem Referendum gingen die Menschen zu Zehntausenden auf die Strasse, während die CHP den juristischen Kampf um die Anfechtung des Wahlergebnisses führte. Diese Aktionen sollten unter keinen Umständen unterschätzt werden: Der juristische Kampf delegitimiert die AKP noch weiter, während die Demonstrationen die Moral und Kampfkraft wieder aufbauen und die AKP in die Defensive drängen. Es ist klar, dass nicht viel dabei herauskommen wird, wenn der Kampf um die Demokratie der passiven CHP überlassen wird. Die Zeiten sind jedenfalls günstig, das diktatoriale Präsidialsystem noch zu zerschlagen, bevor es sich vielleicht doch stabilisieren sollte. Sonst wird’s nämlich düster.