Dieser schöne Satz steht sinngemäss so in einer Broschüre, die vor 64 Jahren in Basel erschienen ist. Sie heisst «achtung: die Schweiz» und ihre Autoren waren der Soziologe Lucius Burckhardt, der Architekt und Schriftsteller Max Frisch und der Werbefachmann Markus Kutter. Sie ist heute noch so aktuell wie damals.
Die Schweiz hat auch ihre guten Seiten. Von diesen soll hier für einmal nicht die Rede sein. Mit ihrer Broschüre entfesselten die drei Autoren eine heftige Debatte über die schon weit fortgeschrittene Zersiedelung der schweizerischen Landschaft, über die mangelhafte und kleinmütige Stadt- und Raumplanung. Anstelle einer konventionellen Leistungsschau an der für 1964 geplanten Landesausstellung schlugen sie die Gründung einer neuen Stadt vor, «einer Stadt, die der Schweizer braucht, um sich in diesem Jahrhundert einzurichten. Sie verstanden ihren Vorschlag als eine Aufgabe für alle, die sich für eine solche Idee begeistern können, als Aufbruch in ein neues Denken, als Triumph einer Idee über die triste Realität. Wer einen besseren Vorschlag hat, soll ihn anmelden. Wir haben den unsern angemeldet und sind neugierig, was mit ihm geschieht»
Was geschah?
Es geschah nichts. Es wurde zwar während einigen Jahren heftig diskutiert, aber die Stadt wurde nicht gebaut. Die Expo 64 fand im üblichen Rahmen statt: «Eine Riesen-Mustermesse, um zu zeigen, dass wir die geistige Schweiz endgültig aufgegeben haben und tatsächlich sind, wofür man uns weitherum hält, Hersteller von Käse, Uhren, Maschinengewehren und Schokolade, ein Volk der Händler, die zufrieden sind, wenn sie viel verdienen.» Ob der Vorschlag der Autoren, die Gründung einer Musterstadt als gesamtschweizerische Manifestation, als Zeichen des geistigen Aufbruchs, sinnvoll oder gar realistisch war, bleibe dahingestellt. Was aber bleibt und was diese Broschüre heute wieder lesenswert macht, ist die schonungslose Kritik der Autoren an den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen, die eine beschämende Aktualität hat: «Wir leben provisorisch, das heisst: ohne Plan in die Zukunft. Unsere politischen Parteien sind passiv. Sie kümmern sich gerade noch um die Gegenwart, um Amtsperioden und die nächsten Wahlen; dabei nehmen sie die Gegenwart ganz und gar als Gegebenheit, um, und es geht nur darum, innerhalb dieser Gegebenheiten möglichst vorteilhaft abzuschneiden. Es fehlt ihnen jede Grösse eines gestalterischen Willens, und darum sind sie so langweilig, dass die jungen Menschen nicht von ihnen sprechen. Unsere Politik ist nicht Gestaltung, sondern Verwaltung, weit davon entfernt, aus den Gegebenheiten der Gegenwart eine andere Zukunft zu planen.»
Drei Beispiele
Uns droht eine Klimakatastrophe, die unsere Existenz auf diesem Planeten in Frage stellt. Und die Antwort der Politik? Die Zürcher Kantonsratswahlen wurden als «Klimawahl» bezeichnet, und die grünen und linken Parteien haben tatsächlich einige Prozente zugelegt. Der Kommentar der NZZ: «Rechte Mehrheit ist akut gefährdet. Nimmt man die Zürcher Wahlen als Gradmesser, so dürften SVP und FDP ihre knappe Mehrheit im Nationalrat verlieren.» Also was soll‘s? Hier ein paar Sitze mehr, dort ein paar weniger. So tönt die Reaktion eines besorgten bürgerlichen Journalisten auf die «Klimawahl» – während die Ökosysteme mit katastrophalen Folgen zu kippen drohen.
Kürzlich ist die Initiative der Jungen Grünen gescheitert, die unser Land vor einer ständig fortschreitenden, heillosen Zersiedelung bewahren sollte. Die Gegner*innen wiesen im Abstimmungskampf auf das revidierte Raumplanungsgesetzt von 2012, das in einer Volksabstimmung angenommen wurde. Die Initiative sei deshalb überflüssig und unnütz. Sicher ist jedoch nur, dass das revidierte Gesetz die Bauspekulation und damit die weitere Zerstörung der Umwelt ebenso wenig verhindern wird wie seine vielen wirkungslosen Vorgänger.
Seit Jahren fehlt es der Politik an Ideen für eine Neuordnung der Altersvorsorge. Gemäss der Bundesverfassung haben die Renten der AHV den Existenzbedarf angemessen zu decken. Zusammen mit der beruflichen Altersvorsorge soll die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung ermöglicht werden. Der Verfassungsauftrag wurde nie erfüllt. Die 2. Säule steckt in einer strukturellen Krise, die schon bei der Gründung dieser Vorsorgeeinrichtung voraussehbar war. Naheliegend wäre, die marode 2.Säule in die AHV zu integrieren und diese zu einer echten Volkspension auszubauen. Die Vorschläge des Bundesrats zur Reform der Altersvorsorge lassen dagegen jede Perspektive vermissen.
Mutlosigkeit
Die Beispiele der mangelnden Voraussicht und des fehlenden Muts zu radikalen Veränderungen liessen sich beliebig vermehren. Worin bestehen die schweizerischen «Tugenden»? Im Sparen im sozialen und kulturellen Bereich, in der Kleinmütigkeit und Mutlosigkeit beim Anpacken wesentlicher Aufgaben, im Suchen nach dem «gutschweizerischen Kompromiss», was leider nur zu oft der bekannten «Quadratur des Kreises» gleichkommt, im Hang zum Verschleppen von Entscheiden und zur Flucht in «Vernehmlassungen». Dazu in «achtung, die Schweiz»: «Wir wollen nicht verwaltet werden von der Unbeweglichkeit derer, die alles, was noch nicht realisiert ist, als Utopie abweisen und zu behaupten wagen, das sei die schweizerische Denkart. Wir wollen die Schweiz nicht als Museum, als europäischen Kurort, als Altersasyl, als Passbehörde, als Tresor, als Treffpunkt der Krämer und Spitzel; sondern wir wollen die Schweiz als ein kleines, aber aktives Land, das zur Welt gehört. Oder sind wir bereits eine Mumie, die man besser nicht mehr berührt?»
Einfluss nehmen
Wir stehen in einem Wahljahr und haben die Möglichkeit, Veränderungen herbeizuführen. Ist es Zufall, dass mir die Broschüre der drei Autoren, die vor mehr als einem halben Jahrhundert geschrieben wurde, jetzt in die Hände fiel? Ein viel zitierter Satz der Broschüre lautet: «Man ist nicht realistisch, indem man keine Idee hat.» Eine grosse Chance für unser Land liegt in der Zuwanderung junger Menschen, die von der schweizerischen Denkart noch nicht vergiftet sind. Sie werden uns helfen, das Land weiter zu entwickeln und das verhängnisvolle laisser-faire der Geistlosigkeit zu überwinden. Die Schweiz droht in ihrem umständlichen demokratischen Apparat zu ersticken. Es ist höchste Zeit, sich darauf zu besinnen, was Demokratie bedeutet, nämlich «Volksherrschaft», das heisst Kämpfen für die Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse, Eingreifen in die grossen Auseinandersetzungen der Gegenwart, die uns alle betreffen, Einfluss nehmen, wo immer es möglich ist, unerwünschte Entwicklungen überwinden und – vor allem – Ideen haben und wagen, sie auch gegen Widerstände zu verwirklichen.
Manfred Vischer