Offiziell hatte die Schweiz nie imperialistische Ambitionen. Aus dem Kolonialismus konnte die Eidgenossenschaft aber trotzdem grossen Nutzen ziehen. Wie und warum erklärt der Historiker an der ETH Zürich Bernhard Schär im Gespräch mit dem vorwärts. Für ihn ist es an der Zeit, die Geschichte der Schweiz weiterzudenken.
Die Schweiz, der Sonderfall: neutral, friedliebend, autonom. So wird unser Land gerne gesehen. Es ist dies das Bild einer Region inmitten Europas, die nicht wie andere Länder seit den Zeiten des Hochimperialismus in grausame Macht- und Expansionskämpfe verstrickt war, sondern als Willensnation aus sich selbst heraus entstanden ist und bis heute ihre Identität irgendwo zwischen Lac Léman und Bodensee entwickelt.
Schon in den 1930er Jahren wurde dieses Geschichtsbild von Richard Fritz Behrendt infrage gestellt. In seiner Studie «Die Schweiz und der Imperialismus» wies der Sozialwissenschaftler und Nationalökonom nach, dass die Schweiz auch ohne Kolonien von der imperialen Politik europäischer Länder zu profitieren wusste.
Lange war die Arbeit von Behrendt vergessen, doch nun werfen ForscherInnen erneut die Frage eines «sekundären Imperialismus» auf und beginnen anhand von Fallstudien, die kolonialen Verstrickungen der Schweiz aufzudecken. Zu ihnen gehört der Historiker Bernhard Schär von der ETH in Zürich. Für ihn ist es höchste Zeit, die Schweizer Geschichte neu – und vor allem viel weiter – zu denken.
Sie gehören zu einer neuen Generation von HistorikerInnen, die am traditionellen Geschichtsbild der Schweiz kratzen.
Bernhard Schär: Das tun die KollegInnen schon lange. Was bei uns hinzukommt: Wir kritisieren die eurozentristische Geschichtsschreibung. Ab 1500 hat Europa weite Teile der Welt erobert. Diese Kolonisierung hat nicht nur Afrika, Asien und Amerika verändert, sondern auch Europa. Nun liegt die Schweiz mitten in Europa, und so ist auch die Geschichte unseres Landes ein Produkt des europäischen Imperialismus.
Die Schweiz hatte aber nie ein eigenes Imperium – anders als die umliegenden Länder Deutschland, Frankreich, Italien und sogar das kleine Belgien.
Stimmt. Nur war der Imperialismus nie bloss ein staatliches Projekt. Es ging immer auch um Wirtschaft, um Soziales und Kulturelles. Und genau hier spielte die Schweiz eine tragende Rolle. Um Imperien zu errichten, benötigt man nämlich Ressourcen. Keine der Kolonialmächte hatte genügend davon. Das schuf eine Nachfrage nach Dienstleistungen aller Art und die waren in der Schweiz reichlich vorhanden.
Haben Sie Beispiele?
Man denke an die Schweizer MissionarInnen. Sie waren in vielen Imperien tätig und dort ziemlich effizient in der oft gewaltsamen «Zivilisierung» der «Heiden». Oder an die Schweizer WissenschaftlerInnen, die im 19. Jahrhundert das Hinterland vieler Kolonien erkundeten, manchmal auch militärische Eroberungen vorbereiteten und sich im 20. Jahrhundert an der «Rassenforschung» beteiligten, die viele Schweizer Universitäten aktiv unterstützten. Dann gab es Schweizer Söldner, die schon seit dem 18. Jahrhundert in den Kolonialarmeen Frankreichs oder Hollands kämpften. Und schliesslich die Financiers und Handelshäuser. Viele von ihnen stellten Kapitel und Know-how für den Sklaven- und Kolonialwarenhandel zur Verfügung und errichteten eigene Stützpunkte in Übersee.
Diese Handelshäuser exportierten Waren in die Kolonien?
Allerdings. Mitte des 19. Jahrhunderts gingen etwa 65 Prozent der gesamten Schweizer Exporte nach Übersee, darunter Textilien, Uhren und Käse. Die Schweiz war aber auch in den Transithandel involviert. Bekannt dafür war die Winterthurer Firma Volkart. Sie handelte schon im 19. Jahrhundert mit Baumwolle und Kaffee zwischen allen Kontinenten und dominierte zeitweilig den Weltmarkt.
MissionarInnen, WissenschaftlerInnen, Söldner, Handelsleute – es scheint, als seien die Schweizer besonders geschickte Trittbrettfahrer des Kolonialismus gewesen.
In meinen Augen war die Schweiz eine multi-imperiale Dienstleistungszone. Sie lieferte Risikokapital, Know-how und Manpower in alle Imperien.
Kann man wirklich davon reden, dass die Schweiz in diese kolonialen Machenschaften involviert war? Waren es nicht bloss einzelne AkteurInnen wie die von Ihnen genannten?
Es stimmt, als Staat hegte die Schweiz nie imperialistische Gelüste, und dafür gab es Gründe. Doch hatte die koloniale Verstrickung der Schweiz immer auch staatliche Dimensionen. So wurden die Kantone von heute bis ins 20. Jahrhundert von eng untereinander versippten Familien regiert. Der politische Einfluss dieser Familien war enorm und verdankte sich nicht selten ihrem Reichtum aus den Geschäften in den Kolonien. Ein Beispiel dafür ist die Familie Sarasin aus Basel. Die Sarasins wurden im kolonialen Baumwoll- und Seidenhandel reich, sie sassen in der Basler Regierung, sie kontrollierten die Basler Mission und einer von ihnen war sogar Mitverfasser der Bundesverfassung von 1848.
Gab es denn keinen Widerstand gegen diese Art von kolonialer Komplizenschaft?
Doch, es gab welche – vor allem Intellektuelle –, die hinterfragten die imperialen Praktiken durchaus. So etwa der konservative Basler Historiker Jacob Burckhardt oder der liberale Zürcher Verfassungsrechtler Johann Caspar Bluntschli. Sie störten sich am Ausmass der Gewalt, mit der die Kolonialisierung durchgesetzt wurde. Aber grundsätzliche Kritik übten auch sie nicht. Der Kolonialismus wurde schlicht als «normal» angesehen. Ein trauriger Beleg dafür sind die «Völkerschauen», in denen dunkelhäutige Menschen aus den Kolonien dem Publikum zum «Gaudi» vorgeführt wurden und die auch hierzulande sehr beliebt waren.
Demnach hat sich die Schweiz auch nicht aktiv am Dekolonialisierungsprozess beteiligt, der nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte?
Nicht wirklich. Man muss auch hier eher sagen: Sie hat davon profitiert.
In welchem Sinne?
Weil die Schweiz kein eigenes Imperium hatte, wurde sie als kolonial nicht vorbelastet betrachtet. Gerade die neu gegründeten Staaten in Afrika oder Asien sahen in ihr einen unverdächtigen, zuverlässigen und vor allem neutralen Partner. So war die Schweiz eines der ersten Länder, das 1948 mit dem von der Kolonialmacht England befreiten Indien einen Freundschaftsvertrag abschloss – und dies, obschon Schweizer Handelsleute aus der ehemaligen Kolonie erheblich Kapital geschlagen hatten. Dieses Beispiel zeigt, wie Teile der Schweiz von ihrer, wie man sagen könnte, «Neutralitätsdividende» profitieren konnten – und bis heute profitieren kann.
Würden Sie denn so weit gehen und einen direkten Zusammenhang behaupten zwischen der schweizerischen Beteiligung an der Ausbeutung der Kolonien und unserem Wohlstand hier und heute?
Sagen wir so: Wir leben in einer globalisierten Welt und die Schweiz ist eines der globalisiertesten Länder überhaupt. Denken Sie bloss an die Banken, die Pharmaindustrie, den Rohstoffhandel. Das alles hat nicht bloss Einfluss auf unseren Wohlstand, sondern auch auf unsere gesamte Lebensweise. Wir tragen Baumwollshirts, trinken Kaffee, Tee, lieben die asiatische Küche und schauen auf Google Maps, wohin wir in die Ferien fliegen. So wie wir leben, sind wir täglich mit der Welt verknüpft. Und viele dieser Verknüpfungen haben eine Geschichte, die in den Kolonialismus zurückreicht. Auf welche Weise die Schweiz an diesen Prozessen beteiligt war und welche Auswirkungen dies auf die aktuelle Lage unseres Landes hat, das muss noch näher untersucht werden. Unbestritten ist: Wir werden weltweit von Problemen eingeholt, die ihre Wurzeln in der Kolonialzeit haben.
Wie Migration und Rassismus zum Beispiel?
Ja, oder die Forderung nach Rückgabe kolonialer Objekte in Museen, die Kritik am Paternalismus der Entwicklungspolitik, die Umweltzerstörung, der Aufstieg Chinas, der darauf basiert, sich nie mehr in Abhängigkeit westlicher Mächte zu begeben. Aus Sicht einer globalen Geschichtsschreibung betreffen all diese Probleme auch die Schweiz. Wenn wir aufgeklärt und demokratisch darüber entscheiden wollen, wie wir uns an Lösungen beteiligen, dann sollten wir wissen, inwiefern die Schweiz für diese Probleme mitverantwortlich ist. Zur Schweizer Geschichte gehört eben nicht nur die Schlacht von Morgarten oder Marignano, die Volksinitiative und das Frauenstimmrecht. Zur Schweizer Geschichte gehören auch die SklavInnenplantagen in der Karibik, die Auslöschung der Mehrheit der indianischen Bevölkerung oder die blutigen Eroberungen im indischen Ozean und im Pazifik.