Sexualität soll so natürlich werden, wie Wasser aus einem Glas trinken, forderte die Revolutionärin Kollontai. Im Russland der Oktoberrevolution brachten neue, bahnbrechende Gesetzesgrundlagen und kühne Theorien die traditionellen Beziehungsformen gehörig durcheinander, mit vielen Ungewissheiten und Unsicherheiten.
Die Sexualrevolution war Teil der sowjetischen Kulturrevolution mit Diskussionen in der Bevölkerung über die «Neuordnung des persönlichen und kulturellen Lebens». Das sowjetische Sexualrecht in den Anfängen stellte das meiste bisher Gelebte auf den Kopf. Bereits im Dezember 1917 erarbeitete Lenin zwei wichtige Dekrete dazu: Eines gab das Recht, eine Ehe aufzulösen, und das zweite ermöglichte die zivile Ehe.
Beides nahmen dem Mann die Herrschaft über Familie und Frau als Aufhebung der patriarchalen Macht und gaben der Frau neben einer neuen Selbstermächtigung auch sexuelle Selbstbestimmung. Mit der Auflösung dieser «Zwangsehe», bestand die Möglichkeit auch sexuelle Bündnisse wieder aufzulösen. Prämisse war jetzt: keineR darf den/die andereN zu einem Verhältnis zwingen, das dem freien Willen widerspricht. Nur grosse, stolze und reine Liebe waren Anlass, zu heiraten. «Verschuldungs- oder Zerrüttungsgründe» bei Scheidung wurden nicht verlangt; niemand war verpflichtet, die Auflösung zu begründen. Die Registrierung einer Beziehung war den Beteiligten freigestellt. Anderweitig geführte sexuelle Beziehungen wie bei «offenen Ehen/Beziehungen», Konkubinat oder Prostitution mit Einverständnis beider wurden nicht verfolgt.
Nicht nur die Gesetzlichkeiten bezüglich Ehe waren stark im Wandel, sondern auch die Abtreibung wurde straffrei und eine sinnvolle Geburtenkontrolle rasch eingeführt. Mit Inkrafttreten des neuen sowjetischen Strafgesetzbuches im Jahr 1922 wurde der Sex im beiderseitigen Einvernehmen zwischen Erwachsenen gleichen Geschlechts entkriminalisiert. Diese und andere Neuerungen ermöglichten aktive, selbst zu fällende Entscheidung über Eheschliessung oder das unverheiratete Zusammenleben, die eigene Sexualität und den Erhalt des individuellen Freiraums beispielsweise mit getrennten Wohnungen.
Kaum theoretische Vorarbeit
Theorien zur Sexualrevolution als Teil der kulturellen Revolution gab es kaum. Zwar hielt Friedrich Engels in «Der Ursprung der Familie» fest, dass die Ökonomie das Sexualleben prägt. Monogamie (der Frau) ist wichtiger Baustein für das Privateigentum und eine der Ecksäulen des Kapitalismus. Aus dem allgemeinen Geschlechtstrieb muss sich eine individuelle Geschlechtsliebe entwickeln, die nicht Wechselspiel der Wirtschaft zur Gesellschaft und auch nicht nur physisches Bedürfnis sein darf. Nach Karl Marx ist der Hauptkonflikt zwischen Lohnarbeit und Kapital zu verorten. Er blieb mit dieser Argumentation zur Frage der Sexualität – andere Konflikte könnten erst nach der Überwindung des Kapitalismus gelöst werden – eher schwammig. Dass die Sexualrevolution vom Standpunkt des dialektischen Materialismus noch nicht verstanden und dass zu seiner Bearbeitung eine grosse Erfahrung nötig sei, betonte Lenin. Würde sich jetzt jemand – so Lenin – sich mit dieser Frage in ihrer wirklichen Bedeutung und Totalität befassen, wäre das bezüglich Revolution ein Schritt vorwärts. Befreite Sexualität war Neuland und die RevolutionärInnen stützten sich – ohne auf eine Vorarbeit zurückgreifen zu können – teilweise auf unbrauchbare Konstrukte. Vorurteile wie, dass das sexuelle Leben eine Ablenkung vom Klassenkampf sei oder das «Sozialsein» mit dem sexuellen Leben unvereinbar ist, festigten sich. Irrigerweise beschäftigten sich bald Gruppen mit der Frage: Welche Art von Sexualität lenkt vom Klassenkampf ab? Mit der Abschaffung des Privateigentums würde sich die sexuelle Frage von selber lösen, so war die verbreitete Annahme.
Aufklärung und Unsicherheit
Herkömmliche sexuelle Beziehungen oder Familienverhältnisse hatten sich nur gesetzlich verändert – in so kurzer Zeit aber nicht in der Wirklichkeit. Die Wirkung der sexuellen Revolution in Russland kann nicht nur nach den radikalen Reformen her beurteilt werden, die erlassen wurden, sondern anhand der Erschütterungen, die diese beim Proletariat bewirkt hat. Wie reagierte die Masse auf die Sexualpolitik der Revolution? Alexandra Kollontai, ab 1920 Nachfolgerin von Inessa Armand im Vorsitz der Frauenabteilung des Zentralkomitees der KPdSU – stellte in ihrer Schrift «Die neue Moral und die Arbeiterklasse» fest, dass die Krise des sexuellen und familiären Lebens aufgebrochen war. Nur äusserlich gaben Gesetze wie das neue Ehegesetz Leitplanken; die wirkliche Neuorientierung fand mitten im gesellschaftlichen Leben statt – mit viel Ungewissheiten und Unsicherheiten. Ziel waren nun die Klärung und Ordnung der sexuellen Verhältnisse – was sich nicht immer ganz einfach erwies.
Fehlinterpretationen des Begriffs «Freie Liebe» liess die Zahl der sexuell motivierten Delikte wie Vergewaltigung und Verführung Minderjähriger in die Höhe schnellen – unklar ist heute allerdings dabei, ob auch die Sensibilisierung der Bevölkerung zum Thema eine Rolle spielte und deshalb mehr Fälle gemeldet wurden. Ebenfalls die Anzahl der neugeborenen Kinder stieg. FunktionärInnen wiesen früh auf das Interesse der Masse hin: billige und gute Aufklärungsliteratur. Dabei sprach diese weiterhin vor allem von Familie – meinte aber die Geschlechtlichkeit.
«Individualistische Ausuferungen»
In den Jahren des imperialen Kampfes kamen grundsätzliche, alte Werte bezüglich Sexualität ins Wanken. Auch die Kriegsjahre halfen mit, die Beziehungen zu revolutionieren und zugleich die Widersprüche in ihrer brutalsten Form offen aufzuzeigen. Vor allem die Abwesenheit der EhepartnerInnen liess eine neue Selbstverständlichkeit zu, andere Sexualbeziehungen einzugehen. Versorgungsengpässe sorgten dafür, dass Frauen (und Männer) vermehrt zu Empfängnisverhütung griffen. Auch Lenin selber förderte Bestrebungen der Öffnung der sexuellen Verhältnisse aktiv, plädierte aber dafür, die sexuelle Frage nicht isoliert, sondern als Teil der wirtschaftlichen Umwälzung zu betrachten. «Individualistische Ausuferungen» der Geschlechterfrage mit dem Fokus auf Gruppeninteressen betrachtete er misstrauisch, Libertinage oder neue Sexualtheorien lehnte er ab. Sein Fazit: Die sexuelle Frage ist nur ein Teil der sozialen Frage. Wichtig sind im Kommunismus zwar Lebensfreude und Liebe, aktuell wichtige Ziele gehen aber weit darüber hinaus.
Der erste Staat der proletarischen Revolution rang mit den KonterrevolutionärInnen der ganzen Welt. Vernichtend kritisierte er Sigmund Freuds Arbeit als «Modennarrheit», gewachsen in der bürgerlichen Gesellschaft – für Leute, die ihr abnormales Sexualleben vor der bürgerlichen Gesellschaft rechtfertigen wollen. Auch in Kritik standen die intensiven Diskussionen über die Sexualität in den Jugendbewegungen als «Übersteigerung» des sexuellen Lebens. Lenin mit puritanischer Haltung forderte eine Ordnung – allerdings nicht bürgerlichen Normierung. Seine Vision der Eherevolution beinhaltete die Verbindung der «individuellen Geschlechtsliebe» mit der «Pflicht gegenüber der Gemeinschaft». Das Individuum – das von der sexuellen Repression befreit war – konnte sich nun völlig der proletarischen Revolution und der kollektiven Arbeit widmen.
Missverständnis: «Freie Liebe»
Weniger Zuspruch erhielt Alexandra Kollontai wegen ihren Konzepten der Kommunehäuser und der «freien Liebe» und Sexualität – allerdings oft aus einem Missverständnis heraus. Grundsätzlich war die Forderung nach einer «freien Liebe» eine, die frei von klerikal-staatlichen Eingriffen, ökonomischen Zwängen und patriarchaler Gewalt war. Der alleinerziehenden Mutter und Volkskommissionärin für soziale Fürsorge wurde aber von KritikerInnen vorgeworfen, für eine zügellose Sexualität einzutreten, und ihre propagierte vielschichtige und kameradschaftliche Liebe wurde in viele «flüchtige Beziehungen» übersetzt. Kollontai selber argumentierte gegen die monogame Ehe als Liebesgefängnis, weil diese Form kaum imstande ist, sexuelle und emotionale Konflikte zu lösen, die durch das Zusammenleben entstehen. Sexualität sollte so natürlich werden, wie Wasser aus einem Glas trinken. Quellen berichten, dass Lenin sie öffentlich für ihre Vorstösse kritisiert haben soll mit dem Argument, dass die «Glas-Wasser-Theorie» unmarxistisch sei – sollen Menschen von einem Glas trinken, das von den vielen Lippen fettig geworden ist? Der Mensch braucht vieles: Lebensfreude und Lebenskraft, Sport und vielseitige geistige Interessen, Lernen und Studieren – so viel wie möglich gemeinsam.
Zu den schärfsten KritikerInnen von Kollontai zählte aber Polina Vinogradskaja, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Marx-Engels-Institut und gemeinsam mit Kollontai bei der Zeitschrift «Kommunistka» tätig. Ab 1923 den «proletarischen Antifeminismus» vertretend, kritisierte sie die Konzentration ihrer Genossin auf die sexuelle Befreiung der Frau. Andere wichtige Punkte wie die hohe Anzahl von Abtreibungen, die Frauen- oder Kinderarmut und die katastrophale Ernährungssituation waren dringender. Zudem sollte sich Kollontai dadurch vom eigentlichen Proletariat entfernt haben und die dekadenten Züge der bourgeoisen Moral aufleben lassen. Sexuelle Freiheit führe zur Vernachlässigung der gesellschaftlichen Aktivität.
Unklare Praxis
Clara Zetkin schrieb in den «Erinnerungen an Lenin» 1925: Die bisherigen sozialen Bindungen lockern sich und zerreissen, es zeigen sich die Ansätze zu neuen ideologischen Einstellungen von Mensch zu Mensch. Das Interesse für die einschlägigen Fragen sei ein Ausdruck des Bedürfnisses nach Aufhellung und Neuorientierung. «Weder Mönch noch Don Juan, aber auch nicht als Mittelding den deutschen Philister», soll Lenin als Weg zur neuen Sexualität gesehen haben. Diese Aussage steht dafür, wie wenig klar – neben der Einführung damals revolutionärer rechtlicher Grundsätzen und alltäglichen Hilfestellungen – die Vorstellungen bezüglich des neuen sexuellen Lebens waren. Damalige revolutionäre Veränderungen und damit verbundene Erfahrungen haben dazu beigetragen, die Sexualrevolution und den dialektischen Materialismus einander näherzubringen.