Mexiko als ein Hort des Machismo. Jedes Jahr verschwinden zig Frauen oder werden getötet. Für diese spezifischen Morde steht der Begriff Femizid. Die Opfer stammen oft aus den untersten sozialen Schichten. Ein Gespräch mit der mexikanischen Aktivistin und Autorin Alma B. Leon Mejia über die Situation der Frauen* gestern und Heute in Mexiko.
«Hast du in der U-Bahn die Frauen* mit den entstellten Gesichtern gesehen?» fragte mich der Arzt. «Sie wurden mit Giftsäure überschüttet». Im Drogenhandel werden Frauen* angeworben oder missbraucht, um kleine Hilfsdienste zu tun. Wenn die Situation unsicher wird, «entsorgt» man sie, bevor Informationen verraten werden oder man sie verhört. Es gibt aber auch immer Verrückte, die Frauen* umbringen. Der Arzt erinnerte sich an einen Mann, der 20 Frauen* umgebracht und ihre Füsse gegessen hatte.
In Mexiko ist die Zahl der ermordeten Frauen* sehr hoch. Seit 2006 sind ca. 8800 Frauen* verschwunden und jedes Jahr werden Tausende ermordet. In fast 50 Prozent der Fälle werden Frauen* erschossen oder erwürgt, erhängt, erstochen und zerstückelt. Berichte belegen eine zunehmende Brutalität. Mitschuldig macht sich dabei auch die Justiz, die nicht aufklärt, sondern fast nichts unternimmt, was die Täter abschrecken könnte oder die Fälle löst. Wenn nichts «Konkretes» unternommen wird und faktische Straflosigkeit vorherrscht, ist dies auch eine Botschaft. Mitten in Mexiko-Stadt, nahe beim Palacio de Bellas Artes, steht ein grosses Monument in Form eines Frauenzeichens, in dessen Ring-Mitte eine Faust zu sehen ist. Rund um die Faust steht geschrieben, dass in Mexiko 9 Frauen* pro Tag ermordet werden. Am Fuss des Mahnmals stehen viele Holzkreuze, die mit den Namen der Ortschaften beschriftet sind, in denen Femizide stattgefunden haben. Auch gibt es wenigstens in der Hauptstadt immer mal wieder Demonstrationen gegen Frauen*gewalt, viele politische Tags an den Hauswänden erzählen davon. Auch im Landesinneren wird an wenigen Orten das Schweigen gebrochen: beispielsweise in San Cristóbal de las Casas findet sich an einem Wellblech eine Art Klagemauer, wo Bilder mit Tätern und Gewalt an Frauen* bis hin zu Femiziden aufgeklebt wurden.
Justiz klärt Morde kaum auf
Alma B. León Mejía kämpft seit über 40 jahre für die Frauen*rechte in Mexico. Sie ist Autorin und Aktivistin aus den 68ern. Ihre Erfahrungen sind unter anderem im 2018 erschienenen Buch «Movimientos estudiantiles y juveniles en México: del M68 a Ayotzinapa» festgehalten. Sie erläutert im Gespräch mit dem vorwärts, die Situation in Mexico.
Alma, wo liegt der Ursprung der Gewalt an Frauen* in Mexiko? Ein Arzt meinte, dass erstens der Machismo und zweitens die Drogenbanden dazu gezählt werden können. Aber auch, dass die Frauen* vermehrt ein Gefühl für ihre Rechte bekommen und sich wehren. Männer*, die mit dieser neuen Geschlechtersituation nicht klarkommen, schlagen zu – «oder bestrafen» ihre Frauen* noch schlimmer. Stimmst du dem zu?
Das sehe ich auch so. Frauen* haben mehr Rechte erhalten und den Männern gefällt das nicht. Lange Zeit war die mexikanische Frau* unterwürfig. Jetzt langsam kommt das Tauwetter, wo sie sich wehren. Es gibt sogar wenige Fälle, in denen Frauen* über ‹Männer› zu bestimmen beginnen. Femizide gibt es überall, bekannt sind aber vor allem die Frauen*morde von Ciudad Juárez. Die Stadt ist weit oben in der Verbrecherstatistik und ist stark vom Drogenkrieg betroffen. Viele Menschen wurden von den verfeindeten Kartellen umgebracht. Seit Anfang der 1990er-Jahren gab es eine Mordserie in der Grenzstadt. Die Opfer waren Frauen* oder Mädchen, die entführt und gefoltert wurden. Ihre Leichen wurden ausserhalb der Stadt aufgefunden. Die Opfer kommen aus der untersten Gesellschaftsschicht. Die Fälle rund um die Femizide wurden nicht aufgeklärt und die Motive der Täter sind unklar. Es könnten Organhändler sein, auch die systematische Tötung nur aufgrund des Geschlechts kommt in Frage oder Menschenhandel mit Prostituierten. Auffällig ist, dass die Justiz die Mordserie kaum aufklären kann. Es gibt Protestbewegungen gegen die Femizide. Gehört habe ich schon von den ‹Totinnen von Ciudad Juárez›. Das Problem rund um Femizide gibt es in Mexiko, doch auch im restlichen Mittel- und Südamerika gibt es viele Frauen*morde.
In Mexiko-Stadt sind in der Metro Plakate aufgehängt, wo vermisste Frauen* gesucht werden. Was macht die Regierung gegen Gewalt an Frauen*?
Es sind kleine Dinge. In der Metro werden Frauen* und Männer* getrennt und es gibt verschiedene Wagen dafür. Es kam vor, dass Männer* Frauen* zu nahekamen. Frauen* wurden berührt – an den Brüsten oder zwischen den Beinen. Mit den separaten Bereichen können auch alte Leute besser geschützt werden. Wenn Männer* drängeln, sind betagte Menschen umgefallen. Auch Menschen mit einer Behinderung sind in den Frauen*wagen. In Banken oder bei öffentlichen Ämtern gibt es auch immer Schalter für Frauen*. Oder auch Parkplätze für Frauen* im öffentlichen Raum. Unsere Bürgermeisterin hat Massnahmen vorgeschlagen: mehr Polizeipräsenz vor Ort, bessere Strassenbeleuchtung, bestimmte Ermittlungsakten sollen neu geprüft werden und es gibt die Möglichkeit, bei mobilen Einrichtungen Anzeigen vor Ort zu machen. Seit 2011 steht der geschlechtsspezifische Mord als Straftat im Gesetz, doch es gibt – soviel ich weiss – nicht weniger Morde.
Wie war der 8. März in Mexiko-Stadt?
Es gab Märsche, Theater und es wurden Frau-en*themen angesprochen. Mütter und direkte Angehörige sind oft Motor der Bewegung und auf den Transparenten heisst es: Recht für das Leben von Frauen*. Wenn Frauen* verschwinden, muss die Polizei aktiv darauf aufmerksam gemacht werden – es muss daraus einen Fall geben. Das ist das Ziel. Die Polizei muss das Verbrechen ernst nehmen. Soweit mir bekannt ist, verschwinden neuerdings nicht nur Frauen* aus der Unterschicht, sondern auch junge Student*innen auf der Hin- oder Rückfahrt zur Universität. Hier entführten Männer* Frauen* und missbrauchten die Frauen*, um sie dann zu töten. Seit 2018 ist dieses Phänomen breiter bekannt. Überhaupt sind Aggressivität und Bedrohung beispielsweise in der Metro grösser geworden. Frauen* wehren sich laut und die Leute werden aufmerksam auf die Situation. Die Männer* sagen, dass es ein Ehestreit sei und so können sie den Fall relativieren. Alle halten sich dann zurück, weil diese Auseinandersetzung scheinbar ‹privat› ist. Teilweise bleibt es auch bei einem Versuch von einem Übergriff, weil die Frauen* sich erfolgreich wehren. Mir ist der Protestmarsch vom 2. Februar 2019 in Erinnerung geblieben. Unter dem Motto ‹Die Nacht gehört uns› sind Frauen* ins Zentrum gegangen und haben hier eine aus Pappe gefertigte Figur eines Täters angezündet. Mit der Aktion wurde an die verschwundenen und ermordeten Frauen* erinnert. Nur im Januar gab es schon 130 Femizide in Mexiko. In den letzten Monaten sind die Frauen*entführungen in den öffentlichen Räumen gestiegen. Es ist an bestimmten U-Bahn-Haltestellen nicht mehr sicher, ein- oder auszusteigen. Es gibt ein neu gegründetes Frauen*parlament in Mexiko-Stadt, das zu geschlechtsspezifischer Gewalt und Diskriminierung der Frau* arbeiten will.
Wie bist du selber zu feministischen Themen gekommen?
Begonnen hat es damit, dass ich als Jugendliche sehr revolutionär gegenüber meiner Mutter eingestellt war. Sie hatte den Machismo gefördert, Alma und ihre Brüder sehr unterschiedlich behandelt. Es gab viele Probleme mit der Mutter. Die 68er- Bewegung war wie eine Geburt für mich und es half mit, meine Persönlichkeit zu verändern, mein Selbstbewusstsein zu stärken und mich für meine Rechte zu sensibilisieren. Ich war während meiner Zeit in Gymnasium und Universität oft bei Demonstrationen mit dabei und Teil einer Politgruppe. Vorbilder waren Angela Davis, Alexandra Kollontai und andere. Aber eine eigentliche Frauen*gruppe mit spezifischen Frauen*kämpfen gab es nicht. Wir hatten damals ‹umfassendere› Kämpfe wie die Kubanische Revolution, obwohl feministische Kämpfe sicher auch sehr wichtig gewesen wären. Wir Frauen* wehrten uns vor allem gegen alte Muster in der Gesellschaft. Wir trugen Hosen oder ein Mini-Jupe. Es gab die Antibabypille und wir wollten mehr Freiheit in unseren Beziehungen mit den Männern*. So küssten wir Männer*, auch wenn wir nicht verheiratet oder sie nicht unsere Freunde/Partner waren. Mit der sexuellen Revolution hatten wir Sex, ohne verheiratet zu sein. In vielen Bars waren vor 1968 Frauen* nicht erwünscht. Es gab die Schilder, auf denen der Eintritt für Frauen*, Minderjährige oder Militär verboten war. Wir Politaktivist*innen und -aktivisten* stürmten diese Lokale. Es waren so kleine Bereiche, wo wir uns für Frauen*rechte eingesetzt haben. Wenn ich mich genauer erinnere, war ich in der Bewegung eher praktisch tätig. Unsere Themen waren allgemein und zugleich vielseitig. Mir kommt keine explizite Frauen*gruppe in den Sinn, die es in der 68er-Bewegung gegeben hat.
Seit wann gibt es in Mexiko eine feministische Bewegung?
Flüchtende wie beispielsweise jene aus dem Franco-Spanien, die nach Mexiko gekommen waren, hatten sicher auch einen Einfluss auf Frauen*kämpfe. Ich sage mir immer, dass die erste Feministin von Mexiko Sor Juana Inés de la Cruz im 17. Jahrhundert gewesen war. Weil sie studieren und nicht heiraten wollte, wurde sie Nonne und später eine berühmte Dichterin. Ein Fundament legte sicher die 68er-Bewegung für den heutigen Feminismus. Einerseits halfen die Kämpfe gegen die ‹alte Ordnung›, andererseits wurde aber auch eine kulturelle, ideologische und sexuelle Revolution aufgebaut, die neue Lebensweisen ermöglichte und aufzeigte. ‹Das Private ist politisch› ist ein Schlüsselsatz. Ich selber denke, dass die heutige feministische Bewegung relativ neu ist (wenige Jahrzehnte) und nicht viele Teilnehmer*innen verglichen mit der Bevölkerungsanzahl von Mexiko hat. Vielleicht ab den 1990er-Jahren treten Frauen* vermehrt öffentlich auf – sicher bin ich jedoch nicht. Vorher sind sie vielleicht mehr in Diskussionsgruppen organisiert gewesen. Feminismus findet sich in den Städten. Indigene Aktivist*innen gibt es wenige, die EZLN ist eines der wenigen Beispiele dafür. Jetzt mit den Femiziden hat die Frauenbewegung wieder einen Aufschwung erhalten.