Armut ist in der Schweiz ein regelrechtes Tabu. Dabei gelten 7,5 Prozent der Bevölkerung als arm. Das Armutsrisiko beträgt 14,7 Prozent und ist damit höher als in den Nachbarländern. Und es werden immer mehr Menschen arm.
Die Schweiz ist eines der reichsten Länder der Welt und dennoch könnten mehr als 20 Prozent der Bevölkerung eine unerwartete grössere Ausgabe nicht verkraften. Bei der Familie von Julia ist genau dieser Fall eingetreten: Ihr Ehepartner Peter ist plötzlich verstorben und hat die Familie in den Teufelskreis der Armut geworfen. Die Kinder konnten ihre Ausbildung nicht mehr finanzieren. Julia wusste nicht mehr, wie sie ihre Miete zahlen soll. Es drohte ihr die Zwangsräumung. Julia musste bei der Hilfsorganisation Caritas anklopfen. Nun muss sie mit 2000 Franken im Monat durchkommen in einem Land, das zu den teuersten der Welt gehört. Der Index der Lebenshaltungskosten für die Schweiz beträgt 131,39 im Vergleich zu Frankreich mit 83,86. Die Rechnung stapeln sich. Julia ist pleite. Mit sechzig Jahren kann sie bald darauf hoffen, ihre Rente zu beziehen und «damit endlich dem Status als soziale Aussenseiterin zu entfliehen», wie sie es ausdrückt.
Viele Working Poors
Sophie ist 25 Jahre alt und Mutter von zwei kleinen Töchtern. Sie arbeitet Teilzeit in der Milchindustrie. Ihr Partner ist Bäcker. Zusammen kommen sie auf ein Einkommen von 6000 Franken netto. Mit der Miete, Krankenkassenprämien, Steuern, Transportkosten etc. bleibt ihnen am Ende des Monats nichts mehr. «Wir glauben nicht, dass wir arm sind, aber wir verdienen nicht genug, um in diesem Land der Reichen zu leben», sagt sie. «Wir haben den 19. des Monats und uns bleibt nicht mehr viel. Wir haben die Sozialhilfe angefragt, aber sie sagten uns, wir würden zu viel verdienen.»
Neben Julia und Sophie sind laut Bundesamt für Statistik 615 000 Personen, das sind 7,5 Prozent, in der Schweiz arm. Im Vergleich zu 2014 ist es eine Zunahme von einem Prozent. Die Armutsgrenze liegt bei 2239 Franken für eine Einzelperson und bei 3984 Franken für eine Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs: Das Armutsrisiko beträgt 14,7 Prozent und ist damit höher als in Frankreich (13,6 Prozent) und Österreich (14,1 Prozent). Jede vierte Person in der Schweiz hat am Ende des Monats keinen Franken mehr in der Tasche. 37 Prozent der EinwohnerInnen können nichts sparen. Viele haben Schulden oder müssen Sozialhilfe beziehen. Bei der Sozialhilfe in Genf haben sich die BezügerInnen innert einem Jahrzehnt verdoppelt. 145 000 Personen werden als Working Poors bezeichnet, als arme Arbeitende. Die Schweiz hat nach Luxemburg das höchste Bruttoinlandsprodukt in Europa. Für 2018 wird ein Wirtschaftswachstum von 2,3 Prozent erwartet, zugleich werden die Löhne nur um 0,5 bis 1 Prozent höher. «Die Umverteilung des Reichtums funktioniert nicht», meint Jacques-André Maire, Vizepräsident der Gewerkschaftsdachorganisation Travail.Suisse. «In den letzten sechs Jahren sind die Löhne von ArbeiterInnen um 3,7 Prozent gestiegen, die der ManagerInnen um 17 Prozent. Die Schere öffnet sich, die kleinen Einkommen sinken konstant durch den Anstieg der Krankenkassenprämien. Es ist eine Katastrophe!»
Hungern in der Schweiz
Parallel zur Stagnation der Löhne steigen verschiedene Ausgabe, was zu Vergrösserung der Armut beiträgt. «Die mittleren Einkommen reichen nicht mehr. Die Mieten und Gesundheitskosten sind stark angestiegen. Immer mehr Familien kommen am Ende des Monats zu uns», berichtet Danitza Limat, Sozialarbeiterin bei Caritas. «Es gibt Ergänzungsleistungen für diese Familien, beispielsweise Prämienvergünstigungen, aber unter strengen Auflagen. Ferner nehmen Haushalte mit einem Einkommen zu: Krippenplätze sind teuer und es gibt nicht genug, dadurch entscheiden sich viele Frauen, nicht mehr zu arbeiten, wenn das Kind kommt. In der Schweiz arbeiten 80 Prozent der Frauen, aber 80 Prozent der arbeitenden Frauen sind teilzeitbeschäftigt.
Bei den Tafeln in der Schweiz hat die Nahrungsmittelverteilung innerhalb von zwei Jahren um 38 Prozent zugenommen. Es sind mehrere zehntausend Menschen, die zu wenig Geld fürs Essen haben. Genaue Zahlen gibt es nicht. Allein die Organisation «Tischlein deck dich» versorgt pro Woche 12 500 Menschen mit Essen. Die «Schweizer Tafel» verteilt täglich rund 16 Tonnen überschüssige, einwandfreie Lebensmittel an soziale Institutionen und armutsbetroffene Menschen. Auf der Internetseite einer anderen Hilfsorganisation steht: «Hört auf, zu glauben, dass man in der Schweiz nicht hungern kann. Das kann jedem passieren. Auch dir!» Es gibt ein regelrechtes Tabu um die Armut. Man lernt in dieser Gesellschaft nicht, um Hilfe zu fragen. Es gilt als demütigend, Sozialhilfe zu beziehen. Aber das ist dabei, sich zu ändern, wohl weil das Phänomen der arbeitenden Armen häufiger anzutreffen ist.