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In Genf wehren sich Asylsuchende gegen ihre Unterbringung in Zivilschutzbunkern und besetzten spontan die «Maison des Arts du Grütli» mitten im Stadtzentrum. Die Regierung argumentiert mit dem Vorwand einer «Notsituation» und einem «massiven Flüchtlingsstrom». Das ist blanker Unsinn.
Die Bewegung «No Bunkers – Collectif d’occupation du Grütli» (Keine Bunker – BesetzerInnenkollektiv des Grütli) lässt seit zwei Wochen die Westschweiz erschüttern. Etwa vierzig Asylsuchende zusammen mit Dutzenden solidarischen Menschen besetzen seit ungefähr zwei Wochen die «Maison des Arts du Grütli» – mitten im Stadtzentrum von Genf. Darüber herrscht wie üblich in den Deutschschweizer Medien eine regelrechte Funkstille. Es handelt sich zwar um einen lokalen Kampf, dennoch ist die Debatte, die die Bewegung angestossen und mit der sie die ganze politische Szene in Genf aufgewirbelt hat, für die ganze Schweiz von Bedeutung.
Unbändige Wut
Die ganze Sache hat am 15. Juni begonnen. Mehrere Asylsuchende, die im «Foyer des Tattes», einem oberirdischen Asylzentrum in Vernier (GE), lebten, erhielten Briefe, die sie darüber informierten, dass sie gezwungenermassen und unverzüglich in unterirdische Zivilschutzanlagen umzuziehen hätten. Der individuelle Widerstand angesichts dieser Anordnung wandelte sich bald um in eine kollektive Empörung: «Diese Bunker sind da für den Fall eines Krieges, nicht, um Menschen unterzubringen!» Innerhalb des «Foyer» begann sich eine Protestbewegung zu bilden. Die Asylsuchenden nahmen mit SchweizerInnen Kontakt auf, die sie kannten. Informationen wurden über die sozialen Netzwerke und per SMS verbreitet. Menschen, die sich mit der Bewegung solidarisierten, begannen ins «Foyer» zu strömen, um den Umzug in die Bunker zu verhindern. Die Polizei griff ein und vertrieb die Bewegung vom Gelände des «Foyers».
Diese Polizeiintervention konnte die Wut jedoch nicht bändigen, die sich nach all den Jahren der täglichen Demütigung aufgestaut hatte. Die Unterbringung in unterirdischen Bunkern, ohne Fenster, ohne Tageslicht, ohne Möglichkeiten, selber zu kochen – und das wenige Tage vor Beginn des Ramadan – wurde zu Recht als offene Provokation aufgefasst. Es war der Funke, der den Flächenbrand entzündete. Man konnte nicht auf dem Gelände des «Foyer» bleiben? Und wenn schon: Eine spontane Demo setzte sich in Bewegung und machte nicht halt, bis sie im Stadtzentrum von Genf angekommen war, wo die Asylsuchenden und die sich mit ihnen solidarisierenden Menschen die «Maison des Arts du Grütli» besetzten.
Das Argument der «Notsituation»
Die Bewegung musste sich organisieren. Während sich die einen mit der Logistik befassen (es muss jeden Tag für mehr als hundert Personen gekocht werden), kümmern sich die anderen um die Verhandlungen mit der Stadt und dem Kanton, um die Rechtsberatung der Asylsuchenden oder um die Kommunikation mit den Medien. Fortlaufend schliessen sich neue Personen, die in die Bunker transferiert werden sollten, der Grütli-Besetzung an, sodass sich die Zahl der Asylsuchenden in der Bewegung innerhalb kürzester Zeit verdoppelt hat. Eine Woche nach Beginn der Besetzung konnte mit einer Demonstration zwischen 1000 bis 1500 Menschen mobilisiert werden, die ein Ende der Transfers in die Bunker und generell eine anständige Unterbringung für alle Asylsuchenden forderten: Die reiche Schweiz darf menschliche Wesen nicht länger wie Waren behandeln, die man lagern und nach Gutdünken herum transportieren kann.
Um die Transfers zu rechtfertigen, benutzt die Regierung das Argument der «Notsituation» wegen dem «massiven Zustrom von Flüchtlingen», der nicht aufhören würde zuzunehmen. Syrische Familien, die den Bürgerkrieg zu entfliehen suchten, würden demnächst in die Schweiz strömen; es wäre deshalb bloss zweckmässig, dass die jungen, ledigen Männer ihnen ihren Platz im Asylzentrum überlassen sollen. Damit ist man wieder bei der klassischen Argumentation angelangt, die in der Schweiz seit Jahren als Vorwand für alle Arten von Verschärfungen im Asylrecht herhalten muss. Auch wenn diese Pseudoargumente ihre Wirkung auf die Presse und die Bevölkerung der Schweiz nicht verfehlen; sie sind blanker Unsinn.
Wie kann sie es wagen?
Wie kann die Regierung es wagen, von einer «Notsituation» sprechen, wenn der Krieg in Syrien seit 2011 andauert und man schon seit Monaten weiss, dass die Schweiz ein neues Kontingent von 3000 Flüchtlingen aufnehmen will? Wie kann sie es wagen, hierbei von einer «temporären Massnahme» zu sprechen, obwohl alle wissen, dass Asylsuchende für Monate, wenn nicht Jahre in solchen Bunkern untergebracht werden? Es ist notwendig, dass man endlich zugibt, dass das Problem des Platzmangels im Asylwesen nicht einer besonderen Konjunktur geschuldet ist, sondern dass es sich um ein wiederkehrendes Problem handelt, dessen Ursachen wohl bekannt ist: die Anpassung der Strukturen auf 10 000 Asylanträge pro Jahr – durchgesetzt in der Ära Blocher, die allgemeine Wohnungsnot und die Untätigkeit der Regierung. Das Problem wird nicht gelöst durch eine überstürzte Unterbringung in Zivilschutzanlagen, sondern indem Massnahmen getroffen werden, die es den Kantonen erlaubt, ihre Kapazitäten der fluktuierenden Zahl von Asylanträgen anzupassen.
Es besteht tatsächlich Handlungsbedarf, aber nicht dort, wo man ihn sich einbildet. Handlungsbedarf besteht darin, der grassierenden kollektiven Psychose in Bezug auf Flüchtlinge ein Ende zu setzen. Handlungsbedarf besteht darin, mit der Kriminalisierung von denjenigen aufzuhören, die Widerstand leisten und nicht akzeptieren, wie Waren behandelt zu werden. Handlungsbedarf besteht darin, eine Lösung zu finden, die diesen Leuten, die zum Äussersten getrieben wurden und ihre Wut und ihre Forderungen mit Mut und Entschlossenheit Ausdruck geben, ein menschenwürdiges Leben garantiert. Was die grosse Solidarität betrifft, die diese Asylsuchenden und ihre UnterstützerInnen gegenwärtig zeigen; sie gibt uns Hoffnung, dass ihr Slogan einmal der Wirklichkeit entsprechen wird: «Say it loud, say it clear, refugees are welcome here!»