Das Programm der diesjährigen Tour de Lorraine vom 17. bis 20. Januar in Bern mit dem Thema «Who Cares?» dreht sich um die unsichtbare Arbeit, die unsere Gesellschaft zusammenhält. Beim Eröffnungspodium war das Ziel der TeilnehmerInnen, eine Auslegeordnung zu machen und Perspektiven zu entwickeln. Klar ist: Streiks im herkömmlichen Sinn sind nicht sinnvoll.
Der Begriff Care gehört traditionell zur feministischen Debatte ab den 1970er-Jahren. Care-Arbeit im feministischen Diskurs ist eine Differenzierung der unbezahlten Hausarbeit als gesellschaftlich notwendige und oft von Frauen geleistete Arbeit, die dem Sinn nach die Her- und Wiederherstellung der Arbeitskraft gewährleistet. Mit dem Care-Begriff wird stark die Beziehungsaspekte von Sorgearbeit herausgearbeitet. Care-Arbeit umfasst unbezahlte und bezahlte Arbeit, die sich an den Bedürfnissen anderer Personen orientiert. Darunter fallen beispielsweise Kinderbetreuung, Altenpflege und freundschaftliche Hilfe. Sorgearbeit kann unbezahlt oder wie in den letzten Jahrzehnten auch entstandene schlecht bezahlte Dienstleistungsarbeit sein. Lange Zeit war Care-Arbeit «unsichtbar» – es wurde nicht darüber gesprochen. Nicht erst seit dem Frauenstreikjahr entstanden Versuche, sich auszutauschen und dieses «Niemandsland» gemeinsam zu kontrollieren. Care-Arbeiter*innen haben sich jetzt organisiert und sind in die Öffentlichkeit getreten. So ist es möglich, Transparenz zu schaffen, damit Frauen ihre Verträge untereinander vergleichen können. Gemeinsam können Care-Arbeiter*innen Beratungsstellen kontaktieren, für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen kämpfen und so Solidarität aufbauen. Löhne in Care-Work sind grossen Lohndiskriminierungen unterworfen. Viele Arbeitgeber*innen begründen die Bezahlung der Arbeit mit Angebot und Nachfrage. Fakt ist aber, dass Lohnunterschiede zwischen den einzelnen Berufen grösser sind, als Lohnunterschiede zwischen den Geschlechtern. So muss primär ein Fokus auf prekäre Arbeit gelegt werden.
Logik von Betriebsstreiks durchbrechen
Welche Möglichkeiten zur Organisation gibt es bei Care-Arbeiter*innen mit und ohne Lohn? Streiks im herkömmlichen Sinn sind bei vielen Angestellten im Care-Bereich nicht sinnvoll. Arbeiter*innen sind in verschiedenen Haushalten verteilt und arbeiten alleine zu unterschiedlichen Tageszeiten. Auch ist oft unmöglich, ihnen anvertraute Personen stundenweise alleine sich selbst zu überlassen. Es gibt Mütter, die sagen, dass sie ihre Kinder nicht bestreiken wollen und die Aktionsform Streik nicht aktiv suchen. Hier muss die Logik des Betriebstreiks durchbrochen werden. Beim Eröffnungspodium der Tour de Lorraine ist ein Ziel der Teilnehmer*Innen, zuerst eine Auslegeordnung zu machen und dann daraus eine Perspektive zu entwickeln. Bozena Domanska, (eine der Gäste beim Gespräch) ist 2009 in die Schweiz gekommen und arbeitete seither als 24-Stunden-Care-Betreuerin im Raum Basel. Da Bozena Domanska bei einem Dokfilm mitgemacht und ehrlich über ihre Arbeit Auskunft gegeben hatte, wurde ihr die Kündigung angedroht. Jetzt ist die Care-Arbeiterin Mitglied von Netzwerk Respekt. Das Netzwerk Respekt@VPOD wurde 2013 vom VPOD Basel gegründet. Da schätzungsweise 10 000 Arbeiter*innen in der Schweiz in diesem Sektor arbeiten, berät «Respekt» Frauen und unterstützt sie. Erfolgreich hat das Beratungsteam vom Netzwerk Klagen und Schlichtungen begleitet. Neu steht im Fokus, dass die Betreuer*innen präventiv für ihre Arbeit geschult werden. In Workshops werden Arbeitssituationen mit Einzelverträgen von Vermittlungsfirmen oder Spitex-Organisationen mit ihren unterschiedlichen arbeitsrechtlichen Bedingungen und Verträgen angeschaut. Schwierig bei bezahlter Care-Arbeit ist, dass diese Arbeit mit Beziehungen zu tun hat. Wenn Beziehungen und damit verbundene Gefühle im Spiel sind, kommt schnell die Vorstellung auf, dass normale Bestimmungen von Arbeitsverträgen nicht gelten. Unrealistische Erwartungen haben oft die «Natur der Frau» im Fokus, die hilfsbereit und aufopferungsvoll ist. Care-Arbeiter*innen sind nach diesem Bild jederzeit bereit, Überstunden zu machen oder auch in der Freizeit kleine Hilfsdienste für den Arbeitgeber zu tätigen. So werden Frauen ausgenutzt, weil sie Frauen sind und es gibt kaum Regelungen zu Endgeltung der Präsenzzeiten, feste Ruhezeiten und Pausen sowie Höchstarbeitszeiten. Dafür umso mehr wiegt die Last der Verantwortung schwer auf den Schultern der Care-Arbeiter*innen, bei der sie Pflegearbeit leisten müssen, oft ohne über das nötige Hintergrundwissen oder Ausbildung zu verfügen. Immer ist die Ambivalenz dazwischen: Was man machen will vs. was man nicht machen kann.
Im Moment wird hier in den Medien von moderner Sklaverei gesprochen.
Globale Sorgekette
Welche Voraussetzungen haben dazu geführt, dass unbezahlte Care-Arbeit zu schlecht bezahlter Care-Arbeit wurde? Es gibt eine historische Verbindung von Care-Arbeit ohne Lohn zu den Dienstleistungen im sozialen Bereich. Lange Zeit wurde an dieses Erfolgsrezept der bezahlten Arbeit geglaubt, doch dann kam die Ernüchterung, weil die Erwartungen nicht in Erfüllung gegangen sind. Obwohl hier Frauen vermehrt Ausbildungen absolvieren und erwerbstätig sind, haben sie nicht die Unabhängigkeit erhalten, die sie sich wünschten. Zwar machen Frauen mit Berufsabschluss Lohnarbeit. Ihre Ehemänner können oder wollen aber oft nicht ihre eigene Erwerbsarbeit reduzieren. Einerseits ist dies in ihren Branchen nicht möglich und andererseits verdienen die Partnerinnen oft weniger als die Männer. Es «lohnt» sich also mehr, wenn Männer grössere Pensen haben. So leistet Care-Arbeit aller Art innerhalb der Familie oft die Frau ohne Bezahlung – auch weil sie ja weniger Lohnarbeit hat. In den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts ist ein Dienstleistungssektor entstanden, der Arbeit mit tiefen Löhnen oder ungenügenden Arbeitsbedingungen anbietet und in dem viele Migrant*innen oder Frauen ohne Berufsabschluss erwerbstätig sind. Schuld daran ist auch die sogenannte «Kostenexplosion» bei den Krankenkassen und der Abbau der Sozialleistungen durch «Sparpakete». Die Betreuungskosten von betagten Menschen beispielsweise kann durch eine Spitex-Angestellte, die direkt im Haushalt arbeitet, reduziert werden. Auch wird die oben beschriebene Care-Arbeit in Schweizer Familien vermehrt ausgelagert und eine externe Care-Arbeiter*in oder eine entsprechende Organisation nimmt sich der Arbeit an, damit Mann und Frau mehr arbeiten können. So wird die Arbeit neu organisiert – allerdings oftmals ohne entsprechende faire Arbeitsverträge. Care-Arbeiter*innen machen Lohnarbeit. Oftmals wartet aber nach Dienstende Zuhause auch noch unbezahlte Care-Arbeit auf sie. Diese Arbeit wird ebenfalls von der Care-Arbeiterin nach Dienstschluss erledigt. Doch das ist nicht bei allen Frauen* und Männern der Fall, die im Sorge-Sektor arbeiten. Vor allem Care-Arbeiter*innen, die hier in der Schweiz arbeiten, fallen in ihrem Herkunftsland bezüglich Sorgearbeit aus. So bleiben Familien, Partner*innen und Kinder zuhause zurück und auch für betagte Eltern kann nicht gesorgt werden. Schwere Arbeit muss sich lohnen – so sagt man. Auch wenn Care-Arbeiter*innen annehmbare Arbeitsbedingungen haben, ihre Nachtarbeit zusätzlich vergütet, ihre Präsenzzeit bezahlt und ein nachvollziehbarer Betrag für Kost und Logis abgezogen wird, werden doch viele Arbeiter*innen nur einige Monate bei ihrer Care-Stelle bleiben. Die restliche Zeit gehen sie nach Hause zu ihren Familien, und kehren allenfalls zurück. Der erhaltene Lohn muss in diesem Fall geteilt werden und die Arbeiter*in und ihre Familie auch für die restliche Zeit ernähren. In vielen Fällen ist das hier in der Schweiz verdiente «grosse Geld» schnell wieder aufgebraucht.
Kriegst du Care?
Wer bekommt wieviel Care – das ist die Frage. Der Zugang zu Care ist beschränkt und teuer. Frauen* und Migrant*innen machen viel Care- Arbeit. Allerdings erhalten Sie selber nur sehr wenig Care-Leistungen. Die Sorgearbeit fehlt nicht nur ihren Familien, sondern auch der Care-Arbeiterin selbst. In der Gegenwart wird die Sorgearbeiter*in wenig bis keine Pflege, Unterstützung oder Zuwendung erhalten und auch in Zukunft im Alter kann die Sorgeleistung sehr klein sein. Es geht um eine Umverteilung von den Ressourcen Zeit und Geld. Sorgearbeit kostet viel und ist teuer. Zugleich ist es ein Feld, in dem gespart wird. Welcher Haushalt kann es sich leisten, faire Arbeitsbedingungen anzubieten? Ein unlösbares Problem entsteht hier an der Schnittstelle zwischen den Haushalten von verschiedenen Nationen und Klassen. Während dem Podiumsgespräch flackert die Idee auf, dass Sorgearbeit vermehrt wieder durch öffentliche Gelder bezahlt und der Sozialstaat gestärkt werden müsste. Auch ein Vorschlag ist, dass man Care-Arbeit privat untereinander teilt. Eine Utopie, so die Meinung einiger Zuhörer*innen. Der ökonomische Druck, ausgelöst durch höhere Steuern für die Bezahlung von fairer Sorgearbeit, würde Familien finanziell erdrücken. Schweigen zu dieser Problematik bleibt zwar am Schluss, doch die Diskussion bildet erst den Auftakt zu einer Reihe von Workshops, die wohl mehr Einblicke ins Thema schaffen können.
Arbeit selber machen, oder jemanden dafür bezahlen – und zwar angemessen
Simona Isler von WIDE Switzerland war eine der TeilnehmerInnen beim Eröffnungspodium der Tour de Lorraine 2019. Sie beantwortete Fragen rund um das Thema Care-Arbeit. WIDE (Women in Development Europe) ist ein unabhängiges, feministisches Netzwerk, setzt sich mit Care-Ökonomie auseinander sowie mit Wirtschafts-, Sozial- und Entwicklungspolitik, vermittelt Wissen, lanciert Diskussionen und nimmt politisch Einfluss.
Care-Arbeit ist keine «normale» Dienstleistung, richtig?
Das stimmt. Care-Arbeit ist immer personenbezogen und das hat Folgen. Care braucht Zeit, ist arbeitsintensiv, lässt sich nur sehr beschränkt arbeitsteilig organisieren, beruht auf Beziehungen zwischen Menschen, kann nicht durch Maschinen ersetzt oder ins Ausland verlagert werden. Das heisst, Care ist immer zeit- und arbeitsintensiv.
Gibt es hier nur beschränkte Möglichkeiten, sich auf vertragliche Regelungen zu beziehen?
Das würde ich so nicht unterschreiben. Die Forderung der Care-Arbeiterinnen nach geregelten Verhältnissen und besseren Gesetzen ist sehr, sehr wichtig.
An der Tour de Lorraine wurde das Netzwerk «Respekt» vorgestellt. Was kann eine Care-Arbeiter*in sonst noch tun, um sich gegen unfaire Arbeitsverträge und Arbeitsbedingungen zu wehren?
Wir als Gesellschaft und Feministinnen sind in der Pflicht – nicht die Care-Arbeiter*innen. Und unsere Forderung muss lauten (neben besserer Regulierung): mehr Ressourcen für diese Arbeit. Haushalte mit abhängigen Angehörigen (alte und kranke Menschen, Kinder) müssen öffentliches Geld bekommen, damit sie sich organisieren und gute Bedingungen gewährleisten können. Entweder: Arbeit selber machen, oder jemanden dafür bezahlen – und zwar angemessen. Es braucht eine massiv höhere Staatsquote für den ganzen Care-Sektor. Diese ist in der Schweiz total unterfinanziert.
Die Logik des Betriebstreiks durchbrechen: wie kann beim Frauenstreik 2019 noch auf die Situation der Care-Arbeiter*innen aufmerksam gemacht, wie die Frauen* und Männer in den Streik miteinbezogen werden?
Da sind gute Ideen gefragt. Wir arbeiten zur Zeit daran. Es geht darum, die Arbeit sicher zu machen in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung. Zum Beispiel: Mit 1000 Kindern ins Bundeshaus gehen – Mütter und Betreuerinnen zusammen. Mit alten Menschen geht das nicht. Kreative Lösungen sind gefragt. Wir stecken mitten in diesem kreativen Prozess. Alle sind herzlich eingeladen, mitzumachen und Ideen einzubringen.