André Rauber. Die russische Oktoberrevolution von 1917 war das Zusammentreffen mehrerer Faktoren: einer Massenbewegung, die sich durch die tiefe Unzufriedenheit des Volkes mit dem Krieg bildete, dem Zerfall des zaristischen Regimes und dem zielgerichteten Vorgehen der bolschewistischen Partei, das vor allem durch Lenin gefördert wurde.
In den vergangenen hundert Jahren hat die Machtergreifung der russischen Bolschewiki im Oktober 1917 verschiedene Interpretationen ergeben, die sich manchmal diametral gegenüberstehen. Für die bürgerlichen HistorikerInnen war dieses Ereignis nicht mehr als ein erfolgreicher Putsch einer winzigen Minderheit der extremen Linken. Für die sowjetische Geschichtsschreibung war die «Grosse Sozialistische Oktoberrevolution von 1917» der logische und unvermeidbare Ausgang eines Gesellschaftsprozesses für Freiheit und für eine klassenlose Gesellschaft. Seit einigen Jahren behandelt ein Teil der HistorikerInnen die Sache etwas objektiver: Der Aufstand im Oktober 1917 in Russland war das Zusammentreffen mehrerer Faktoren: einer Massenbewegung, die sich durch die tiefe Unzufriedenheit des Volkes mit dem Krieg bildete, dem Zerfall des zaristischen Regimes und dem zielgerichteten Vorgehen der bolschewistischen Partei, das vor allem durch Lenin gefördert wurde.
Der Untergang des Zarenreichs
Der Zerfall der absolutistischen Monarchie der ZarInnen in Russland, der mit dem russisch-japanischen Krieg von 1904 bis 1905 begann, beschleunigte sich durch den Petersburger Blutsonntag im Januar 1905: Tausende Menschen versammelten sich vor dem Zarenpalast, um ihre Nöte vorzutragen. Statt den Protestierenden zuzuhören und Eingeständnisse zu machen, hat das Regime reingeschlagen: Man zählte Hunderte bis Tausende Todesopfer. Im darauffolgenden Jahr fanden zahllose Demonstrationen von ArbeiterInnen und BäuerInnen und Versammlungen mit Personen aus allen Schichten der russischen Gesellschaft statt, die politische Freiheiten und den Übergang zu einer konstitutionellen Monarchie verlangten. Es wurden tatsächlich einige dürftige institutionellen Reformen durchgeführt wie die Schaffung der Duma, dem Parlament, und der Sowjets, Räte, die die Bevölkerung aus den verschiedenen Regionen vertraten.
Der Zar war jedoch nicht bereit, seine autokratische Macht abzugeben, und widersetzte sich echten Veränderungen. 1914 stürzte er Russland in den zwischenimperialistischen Konflikt, den Ersten Weltkrieg. Diese Beteiligung des ärmsten Staates Europas am ersten weltumspannenden Konflikt auf Seiten Frankreichs und Grossbritannien stellte sich als fatal heraus für den Zaren, der im Februar 1917 abdanken musste und seinen Platz der Provisorischen Regierung, die die Duma ernannte, räumen musste. Diese Regierung, die sich aus den verschiedenartigsten politischen Kräften zusammensetzte, von Vertretern des Adels über Grundeigentümer und Bürgerlichen bis zu Sozialisten, in einem Land, das keine demokratische Erfahrung hatte, besass keinerlei Autorität und musste die «Konkurrenz» durch die Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte ertragen, die oft entgegengesetzte Weisungen herausgab.
Ein zermürbtes Volk
In dieser chaotischen Situation haben gewisse AnführerInnen einer kleinen politischen Kraft, die Bolschewiki, die nur eine bescheidene Rolle in der Auslösung der Revolution von 1905 und vom Februar 1917 gespielt haben, die Frage nach einer wirklich revolutionären Regierung aufgeworfen. Und sie stellten die Aussicht auf einen sofortigen Friedensschluss sowie auf tiefgreifende soziale Reformen, um die Macht des Staates, der sich in den Händen des Adels, der GrossgrundbesitzerInnen und der KapitalistInnen befand, auf die ArbeiterInnen und die armen BäuerInnen zu übertragen.
Diese Massnahmen entsprachen den Wünschen der grossen Volksmassen, die vom Krieg zermürbt waren. Die Provisorische Regierung hingegen wollte diesen Krieg fortsetzen. Die wichtigen sozialistischen AnführerInnen befanden sich aber im Frühling 1917 zum Grossteil noch im Exil, zu einem Zeitpunkt, als die Situation noch alles andere als entschieden war. Der wichtigste davon, Lenin, befand sich damals in Zürich (siehe: «Lenin und sein Wirken in der Schweiz», vorwärts Nr. 09/10)
Hindernisse für ExilantInnen
Als die russischen EmigrantInnen vom Sturz des Zaren erfuhren, konnten sie es kaum erwarten, wieder ins Land zurückzukehren. Sie hatten grösste Eile. Doch die Rückkehr war kein leichtes Unterfangen, vor allem nicht für die linken AnhängerInnen der Zimmerwalder Konferenz. Viele von ihnen befanden sich in der Schweiz. Sie hatten sich oft für den Waffenstillstand mit dem kriegsführenden Deutschland sowie für den Umsturz des Kapitalismus, sprich die sozialistische Revolution ausgesprochen. Für die Kriegsallierten Frankreich und England war dies Grund genug, um mit allen Mitteln zu versuchen, die russischen RevolutionärInnen im Exil ausser Gefecht zu setzen.
Auch Trotzki, der sich in New York im Exil befand, wurde während seiner Durchreise in Kanada von den englischen Militärbehörden verhaftet und über einen Monat lang eingesperrt, bevor er Sankt Petersburg erreichen konnte. Für Lenin und seine russischen GenossInnen in der Schweiz war das Warten auf die Rückkehr eine Qual. Sie versuchten alle möglichen Mittel und Wege, um nach Russland zu gelangen, ohne dabei von den Alliierten verhaftet zu werden. Lenin prüfte gar die Möglichkeit, mit einer Perücke und einem falschen Pass, der ihm vom Bibliothekar Karpinski aus Genf ausgestellt worden wäre, durch Frankreich und England zu reisen und so ins Heimatland zu gelangen. Doch diese Idee war zu abenteuerlich und gefährlich. So wurde beschlossen, durch deutsches Territorium zu reisen, also durch jenes Land, mit dem sich Russland im Krieg befand.
Rückkehr im «plombierten Wagen»
Um die Reise im plombierten Zugwagen durch deutsches Gebiet zu ermöglichen, waren Verhandlungen mit der deutschen Regierung notwendig. Diese wurden von Robert Grimm und Fritz Platten geführt, beide führende Persönlichkeiten der Schweizer Sozialdemokratie. Platten, der spätere Mitbegründer der Kommunistischen Partei der Schweiz, war Sohn eines eingebürgerten Arbeiters aus Deutschland. Er machte eine Lehre als Schlosser und kam früh in Kontakt mit der Zürcher Arbeiter-Innenbewegung und mit ausländischen RevolutionärInnen, die in der Limmatstadt im Exil waren. Als 1905 die erste russische Revolution ausbrach, begab er sich nach Riga, um «zu siegen oder zu sterben an der Seite der lettischen SozialdemokratInnen». Er wurde verhaftet und für neun Monate eingesperrt. Zurück in Zürich übernahm er 1912 eine wichtige und führende Rolle während des Zürcher Generalstreiks, bei dem etwa 800 Maler und 400 Schlosser streikten und der für einige Tage die Stadt lahmlegte. 1917 wurde Platten in den Nationalrat gewählt und konnte dadurch mühelos die Verbindung zu Grimm aufnehmen, um die Verhandlungen für die Rückkehr Lenins und seiner bolschewistischen GenossInnen durch Deutschland und über Schweden zu organisieren. Als Gegenleistung verlangte die deutsche Regierung die Zusicherung von Lenin, dass er bei der Provisorischen Regierung in Russland vorsprach, um die Freilassung der gleichen Anzahl Kriegsgefangener wie Reisende im Zug zu erlangen.
Neunzehn Bolschewiki
Die Verhandlungen waren schnell abgeschlossen, auch weil Deutschland überzeugt war, dass eine Rückkehr Lenins zu einer Demoralisierung innerhalb der russischen Armee führen würde. Frankreich und England schätzten dies wohl gleich ein. Sie stellten Lenin und seine GenossInnen als deutsche AgentInnen dar und versuchten vergeblich, Schweden dazu zu bewegen, die Reisegruppe verhaften zu lassen. Schweden blieb neutral und gewährte die Durchreise.
Unter den 33 Reisenden, die am 9. April 1917 in zwei plombierten Zugwagen am Grenzübergang Gottmadingen aufbrachen, befanden sich 19 Bolschewiki. Neben Lenin auch Karl Radek, Grigori Sinowjew (der spätere Sekretär der Komintern) sowie Nadeschda Krupskaja, die Ehefrau Lenins, und Inessa Armand, die von vielen auch als die Geliebte von Lenin gehalten wird. Unter den Reisenden befand sich auch Fritz Platten, der für die problemlose Abwicklung der Reise sowie das Einhalten der Abmachungen mit den deutschen Behörden verantwortlich war. Lenin und seine KampfgefährtInnen erreichten Sankt Petersburg am 16. April. Sinowjew, Radek und Platten wurden Jahre später alle Opfer der Säuberungswelle unter Stalin.
Unnachgiebige Haltung
Die Rückkehr Lenins, von den einen hoffnungsvoll erwartet, wurde von den anderen wenig geschätzt. Denn bevor er Zürich verliess, hatte er Gefühle von «absolutem Misstrauen» gegenüber der Provisorischen Regierung und ihres Führers Kerenski ausgedrückt. In einem Instruktionstelegramm im Namen der Bolschewiki im Exil hatte er die Bewaffnung des Proletariats, sofortige Wahlen in die Petersburger Duma und keine Annäherung an die anderen Parteien gefordert.
Eine unnachgiebige Haltung, die im Gegensatz zum Verhalten der bolschewistischen FührerInnen in Sankt Petersburg stand. Lenins Analyse – die er zuerst in seinen kurz vor seiner Abreise geschriebenen «Briefen aus der Ferne» und dann in den in Russland verfassten «Aprilthesen» erarbeitete – entwarf eine Taktik, die von der ersten zur zweiten Phase der Revolution führen sollte. Gemeint war, «die revolutionäre demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern» zu installieren, um den Weg frei zu machen für die sozialistische Weltrevolution. Die Thesen wurden als extrem betrachtet, die übrigen politischen Anführer-Innen und sogar politische FreundInnen wiesen sie zurück. Trotzdem spiegelten sie die Gefühlslage vieler bolschewistischer Organisationen auf dem Land und Hoffnungen in der Bevölkerung wider.
Machtanspruch und Repression
Da die Provisorische Regierung den Alliierten versichert hatte, Russland werde den Krieg an ihrer Seite fortführen, erhob sich von überall her ein Sturm der Entrüstung, sogar aus sehr «moderaten» Kreisen, die überzeugt waren von der Notwendigkeit eines Friedensvertrags mit Deutschland. Pawel Miljukow, Aussenminister und konstitutioneller Demokrat, musste darauf abdanken. Keine andere politische Kraft wollte in dieser Situation die Verantwortung übernehmen ausser den Bolschewiki: Lenin beanspruchte auf dem ersten Panrussischen Kongress der Sowjets die Macht für die Bolschewiki, obwohl diese eine kleine Minderheit darstellten.
Für die Provisorische Regierung war das eine Kriegserklärung, auch weil Trotzki und seine MitkämpferInnen sich auf die Seite der Bolschewiki geschlagen hatten und die Anzahl Demonstrationen ständig zunahm. Deshalb wurde zu repressiven Massnahmen gegriffen: Kamenew, Trotzki, Lunatscharski und Kollontai wurden verhaftet. Lenin und Sinowjew konnten sich nach Finnland absetzen.
Im August 1917 fand dann der Militärputsch von Kornilow statt. Er schlug fehl, erschütterte aber die Autorität der Provisorischen Regierung weiter, während er die der Bolschewiki stärkte. Angesichts der Unentschlossenheit des Zentralkomitees der bolschewistischen Partei, Massnahmen zur Machtübernahme zu treffen, reiste Lenin, zunehmend ungeduldig und überzeugt, dass jetzt die «Früchte geerntet» werden müssten, heimlich nach Sankt Petersburg, um das ganze Gewicht seiner Autorität in die Erzeugung eines Aufstands zu werfen.
Frieden und Boden
Obwohl lebhafte Kontroversen unter den bolschewistischen AnführerInnen stattgefunden hatten, gingen die revolutionären Kräfte am Morgen des 25. Oktober (7. November im heutigen Kalender) zum Angriff über und besetzten die strategisch wichtigen Punkte in Sankt Petersburg. Die Mitglieder der Provisorischen Regierung wurden verhaftet oder verjagt. Am Nachmittag proklamierte Lenin den Sieg der «Arbeiter- und Bauernrevolution». Am Abend übertrug der zweite Panrussische Kongress der Sowjets die ganze Macht den Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten Russlands. Am Abend des 25. Oktober verabschiedete der Kongress die Dekrete betreffend dem Frieden (Vorschlag an die Mittelmächte, den Kriegszustand bedingungslos zu beenden) und Boden (Agrarreform und Verteilung des Bodens an die armen BäuerInnen). Dazu beschloss er die Bildung des Rats der VolkskommissarInnen, der neuen Revolutionsregierung.
«Natürliche Ordnung»?
Heute, nach den Ereignissen, nach den Erfolgen und den Niederlagen, und schliesslich nach dem Untergang der Sowjetunion, die aus der Oktoberrevolution von 1917 hervorging, kann man sicher verschiedene Schlüsse aus dieser Erfahrung ziehen. Für die einen beweist der Abbruch des gewaltigsten Versuchs, einen neue soziale Gesellschaft zu errichten, dass es keinen Zweck hat, die gegenwärtige «natürliche Ordnung» infrage zu stellen. Sie wollen, dass die unsichtbare Hand der Wirtschaft die Menschheit weiter beherrscht und wir weitergehen auf dem holprigen, «alternativlosen», «bestmöglichen» Weg. Sie wollen weiterhin den Kapitalismus, der als Verschmelzung der freien Marktwirtschaft mit der liberalen Demokratie dargestellt wird.
Diese Einstellung können wir nicht teilen. Dennoch sollten wir den bolschewistischen Weg auch nicht idealisieren oder rechtfertigen, um diese Gesellschaftsordnung zu verändern. Wir betrachten die russische Oktoberrevolution und diejenigen, die Teil davon waren, aber auch nicht als ein Unglück, das im 20. Jahrhundert über die Menschheit kam. Das bestand vielmehr im Krieg der europäischen ImperialistInnen ab 1914.
Was wäre, wenn …?
Es ist nicht übertrieben, wenn man sagt, dass die heutige Situation in der Welt schlimmer wäre ohne die enorme Wirkung, die die Oktoberrevolution ausgelöst hat: Für den Kampf gegen den Kolonialismus und für das Selbstbestimmungsrecht der Völker; durch die Herausforderung, die der wirtschaftliche Aufschwung der Sowjetunion in den 30er Jahren für die kapitalistischen Länder darstellte, der soziale Konzessionen an die ArbeiterInnenklasse und die armen BäuerInnen notwendig machte. Wie es der französische Historiker André Fontaine ausgedrückt hat: «Es hätte kein 1917 gegeben und auch keinen Kalten Krieg, wenn die kapitalistische Gesellschaft die soziale Gerechtigkeit entdeckt hätte, bevor sie durch den Druck der Massen dazu gezwungen worden wäre.» Dieser Rolle des sozialen Antriebs und der Befreiung der Völker kann man die Ansicht des grossen Historikers Eric Hobsbawn hinzufügen: «Ohne die Oktoberrevolution bestünde die Welt (ausserhalb der USA) heute wahrscheinlich eher aus einer Reihe von autoritären und faschistischen Varianten als aus einem Ensemble unterschiedlicher liberaler, parlamentarischer Demokratien.»
Trotz ihrer letztlichen Niederlage und den menschlichen Tragödien, die ihr folgten, ist die Bilanz der sowjetischen Revolution von 1917 letzten Endes und insgesamt sicher nicht negativ.