Gaston Kirsche. Über 30 Jahre liegen nun meine ersten Erfahrungen in der Arbeitswelt zurück: Meine Ausbildung als Drucker, die Arbeit mit krebserregenden Substanzen, Nachtschichten sowie die Arbeitskämpfe für mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen in einer Branche, die sich in einem radikalen Umbruch befand, haben mich geprägt.Der Betriebsalltag war aber auch von Sexismus und Rassismus geprägt. Die Erinnerungen eines Druckarbeiters.
Der Tiefpunkt war meistens so zwischen zwei und drei Uhr morgens. Der Körper will schlafen und versteht nicht, warum er hier an der Rotation steht. Die Papierbahn rast durch die zehn Druckwerke, überall Papierstaub, trotz der Ohrstöpsel ist es laut. Der Maschinenkontrollstand ist ausserhalb der Box, in der die dreistöckige Druckmaschine läuft. Die tonnenschweren Druckzylinder rotieren, auf der Druckmaschinenverkleidung klebt ein dünner Film aus Schmieröl. Wenn es einen Reisser gibt, müssen alle Drucker rein und die über drei Meter breite Papierbahn über die Laufstangen wieder durch die zehn Druckwerke führen. Fünf für den Schöndruck, fünf für den Widerdruck. In den Farbwannen schwimmt die flüssige Druckfarbe auf Toluolbasis. Toluol ist krebserregend und verdunstet bei niedrigeren Temperaturen als Wasser. Das meiste wird abgesaugt, aber nicht alles. Gearbeitet wird ohne Handschuhe, Farbreste werden mit in Toluol getränkten Lappen abgewischt. Andere, nicht gesundheitsgefährdende Lösungsmittel für die Tiefdruckfarben sind teurer. Also Toluol.
«Wir lassen sie sterben»
In einem Artikel in einer bekannten Zeitschrift stand in drei Absätzen etwas über die schädliche Wirkung von Toluol auf Menschen: Münchner Wissenschaftler*innen hatten das Blut von Druckereiarbeiter*innen aus Baden-Württemberg analysiert. «Bei Beschäftigten, die länger als 16 Jahre im Tiefdruck arbeiteten, war die Anzahl von deformierten Erbinformationsträgern in den Zellen wesentlich höher als bei den Kollegen, die erst kürzer dabei waren.» Konkret: «Da gab es Brüche in den Chromosomenärmchen, winzig kleine Verbindungsteilchen fehlten oder waren vertauscht. Solcherart Fehler in der genetischen Information können vermehrt entstehen, wenn die Reparaturmechanismen in der Zelle nicht mehr richtig funktionieren», hiess es unter der Überschrift «Wir lassen sie sterben». Weiter war zu lesen: «Bei ersten Gesundheitsuntersuchungen hatten die Drucker sich über ständig trockene Schleimhäute in Mund, Nase und Rachen beklagt. Sonst war nichts weiter aufgefallen. Als die Forscher sie jedoch einige Jahre später zur Nachuntersuchung baten, gab es eine böse Überraschung: 4 der insgesamt 60 untersuchten Tiefdrucker waren mittlerweile an Krebs gestorben». Der nicht namentlich gezeichnete Artikel erschien am 7. März 1994 in der Ausgabe 10/1994 von «Der Spiegel».
Die Arbeitenden vergessen
Gedruckt wurde auch diese Ausgabe in der Tiefdruckerei des Axel-Springer-Konzerns in Ahrensburg – wie üblich mit Farben auf Toluolbasis. Eine Umweltschutzorganisation, meiner Erinnerung nach Greenpeace, liess in den 1980er-Jahren Exemplare von «Der Spiegel» in einer einmaligen Aktion ohne Toluolfarben nachdrucken und verteilen. Die Leser*innen sollten sich nicht mit den Rückständen der toluolhaltigen Farben vergiften, war der Tenor der Aktion. Über die in der Druckerei Arbeitenden, die am meisten unter der Schadstoffbelastung leiden, wurde bei der Aktion geschwiegen. Selten wurde mir deutlicher, wie falsch es ist, ökologische Forderungen ohne gleichzeitige Kritik der Produktionsbedingungen und des Dogmas der Kapitalverwertung zu stellen.
Erst im weiteren Verlauf der 1990er-Jahre war Toluol als Lösungsmittel aufgrund technischer Änderungen kein bedrohliches Thema mehr. Massgeblich hierfür waren Kampagnen von Seiten der damaligen Industriegewerkschaft Druck und Papier und ihrer Schwesterorganisationen in Europa. Tatsächlich ist die Druckindustrie seitdem, was Gesundheitsschutz und dann auch Umweltschutz betrifft, ziemlich weit vorne nach den Desastern in den 1970er und noch 1980er-Jahren. Was man aber nicht mehr regeln konnte, war die Kontaminierung der Böden.
Morgens um sechs ist Feierabend
Zurück zur Nachtschicht an der Tiefdruckrotationsmaschine. Gedruckt wird der jährliche IKEA-Katalog, in Millionenauflage. Heute ist der Druckbogen mit den Betten dran, die ganze Nacht durch. Aber anstatt im Bett zu liegen, achte ich auf den Passer beim Fortdruck. Die gesamte Maschinenbesetzung reagiert nachts um zwei Uhr fahriger als sonst, wenn beim Rollenwechsel die Papierbahn reisst, der Passer nicht mehr stimmt oder Dreck an einem Rakelmesser ist. Es arbeiten mehr Drucker an den Maschinen, als der Verband der Druckindustrie möchte. Einer kann immer Pause machen. Tarifvertraglich geregelt, durch Streiks erkämpft. Nicht erreicht werden konnten grundsätzlich weniger gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen. Der Lärm, die Toluoldämpfe – all das musste nicht sein. Ebenso wenig wie der Dreischichtbetrieb an den grossen Rotationsmaschinen. Im wöchentlichen Wechsel, Frühschicht, Spätschicht und die Nachtschicht: Um 22 Uhr beginnt die Arbeit, um sechs Uhr morgens ist Feierabend. Klar gibt es gesellschaftlich notwendige Arbeit, die rund um die Uhr erledigt werden muss. Drucken gehört nicht dazu.
Von Männlichkeit geprägt
Die grossen Rotationsmaschinen sind teure Investitionen, damit sie sich schneller amortisieren, laufen sie rund um die Uhr. Nachtschicht, Gesundheitsgefährdung für den Profit. Die starke Vernutzung durch Arbeit hat ihren Preis. Nicht alle erreichen überhaupt das Rentenalter. Für Frauen war Nachtarbeit im produktiven Gewerbe aus Arbeitsschutz bis 1992 verboten – für Männer nicht.
Durch das Arbeiten nur unter Männern, durch die gegenseitige Selbstbestätigung im Lebensmittelpunkt Drucksaal werden patriarchale Muster reproduziert: Frauen sieht man Zuhause oder in der Freizeit. In den Spinden oft Fotos von nackten Frauen. Das Patriarchat ist wie der Rassismus und der Antisemitismus konstitutiv in die Reproduktionsverhältnisse des Kapitals eingeschrieben. Und wird durch die Lohnarbeit (re-)produziert: Die qualifizierten Drucker am Maschinenpult sind meist weiss und einsprachig, die Hilfsarbeiter im Papierkeller und an den Maschinenauslagen, wo die gedruckten und gefalzten Produkte abgelegt werden, sind in der Regel schwarzhaarig und mehrsprachig. Wenn bei Stoppern Alle anpacken, um die Rotation wieder ins Laufen zu bringen, oder beim Wechsel der Druckzylinder, beim Wechsel der Rakelmesser – immer haben der Maschinenführer und die anderen Drucker das Kommando. Eine prägende Hierarchisierung. Typisch für die traditionell verstandene Klasse aus Weissen, männlichen Facharbeitern. Frauen* und Migrant*innen waren in der klassischen Vorstellung von der Arbeiterklasse unsichtbar. Der Arbeiterstolz wurde von Männlichkeit und Stärke geprägt, das körperliche Leiden an den Arbeitsbedingungen ignoriert.
Neues Regulationsregime
Während meiner Lehre zum Drucker Tiefdruck/Offset floh ich vor dem Lärm, den Tolouldämpfen und der Monotonie an der Rotation öfters in eine Toilette. Wenn ich dort ein paar Minuten sass, spürte ich, wie ich mich in meinem eigenen Körper ins Innerste verkrochen hatte. Die äussere Hülle meines Körpers war mir fremd, schmutzig, Farb- und Lösemittelrückstände bis in die Haarspitzen. Die Gemeinschaftsduschen waren zum Feierabend der Ort des Auflebens.
Diese Erfahrung von mir liegt über dreissig Jahre zurück – meine erste Erfahrung mit Lohnarbeit. Die Druckindustrie hatte 1984 schon die technologische Umwälzung durch elektronische Daten- und Textverarbeitung und den Einsatz von Mikroprozessoren hinter sich – der Bleisatz etwa war Geschichte. 1978 gab es einen von beiden Seiten harten Arbeitskampf in der Druckindustrie: Die im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) damals linksaussen stehende IG Druck & Papier forderte einen Ausgleich für Rationalisierungen, sichere Arbeitsplätze und menschenwürdige Arbeitsbedingungen. Der Streik endete mit einer Niederlage, es ging der Kapitalseite ums Ganze. Der Übergang vom Fordismus zum Postfordismus als neuem kapitalistischen Regulationsregime – hier wurde er in einem Bereich durchgesetzt. 2018 arbeiteten noch 131700 Menschen in der Druckindustrie in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhält-nissen. Die Zahl der Beschäftigten ist seit Jahren rückläufig. Gegenüber dem Stand von 1980 (223864) ist die Zahl der Beschäftigten um rund 41 Prozent gesunken (Zahlen des Bundesverbandes Druck und Medien). Der Umsatz ist dabei bis 2000 stark angestiegen und stagniert seitdem bei etwa 20 Milliarden Euro.
Ausserhalb der Vorstellungswelt
Sicher habe ich einiges vergessen von den Einführungen in die Kritik der politischen Ökonomie, von den Schulungstexten «Lohn, Preis, Profit» und «Lohnarbeit und Kapital» von Karl Marx, aber die eigene Erfahrung nicht. In der Grafischen Jugend haben wir seinerzeit über ein Verbot der Nachtarbeit in der Druckindustrie gesprochen. Die Studierenden in meiner WG haben die Probleme durch die Dreischichtarbeit nur ansatzweise verstanden. Wenn sie lange frühstücken wollten, war an Schlaf nicht zu denken. Für sie waren meine Arbeitsbedingungen einfach ausserhalb ihrer Vorstellungswelt. Dabei kellnerten oder jobbten sie selbst auch.
Die Tiefdruckerei Broschek, in der ich in den 1980er- Jahren arbeitete, hatte einen links dominierten Betriebsrat – dessen damalige stellvertretende Vorsitzende der Zeitschrift Konkret ein Interview zum Thema «Sexismus im Betrieb» gegeben hatte, woraufhin sie fristlos gekündigt wurde. Sie gewann aber die Prozesse auf Wiedereinstellung. Mehrere Betriebsräte waren erst wieder in die Industriegewerkschaft Druck und Papier aufgenommen worden, nachdem sie infolge der «Unvereinbarkeitsbeschlüsse» aller DGB-Gewerkschaften als Mitglieder des Kommunistischen Bundes in den 1970er-Jahren ausgeschlossen worden waren.
Klassenbewusstsein eher randständig
Bei Warnstreiks in den Tarifrunden war Broschek immer vorneweg dabei: Mehr Lohn, bessere Arbeitsbedingungen – dafür stand eine Mehrheit der Beschäftigten ein. Als Auszubildender und danach habe ich im Drucksaal viel kollegiale Unterstützung erleben können. Trotzdem war das Klassenbewusstsein durchwachsen. Klar für mehr Lohn, für einen starken Betriebsrat. Aber schon beim Einsatz für eine kämpferische Gewerkschaft war den meisten das eigene kleine Glück wichtiger. Es gab Konkurrenz, es gab Sexismus, Rassismus. Ein Kollege schwärmte davon, nach Südafrika auswandern zu wollen, das damals noch ein Apartheidstaat war. Und der eigene Hausbau war wichtiger als Politik. Sicher hing dies auch mit Enttäuschungen zusammen, mit Resignation. Aber das Bewusstsein, sich als Klasse formieren zu wollen, politisch kämpfen zu wollen, über den eigenen Tellerrand hinaus, das war eher randständig.
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