Die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) bestätigte im April 2019 in einem langen Bericht die Feststellungen von internationalen Prozessbeobachter*innen, die seit geraumer Zeit
systematische Verletzung rechtstaatlicher Prinzipien in Prozessen gegen Rechtsanwält*innen in der Türkei kriti-
sieren – ein aktuelles Beispiel.
Am Mittwoch, 20. März 2019, hat ein türkisches Gericht gegen achtzehn Anwält*innen Haftstrafen verhängt. Die Verteidigung ihrer oft aus politischen Gründen verfolgten Mandant*innen wurden von Anklage und Gericht als Mitgliedschaft in oder Unterstützung einer terroristischen Organisation gewertet. Die Anwält*innen Bark?n Timtik, Ebru Timtik, O?zgu?r Y?lmaz, Behic? Asc??, Sukriye Erden, Selc?uk Kozagac?l?, Suleyman Gokten, Aytac? U?nsal, Engin Go?koglu, Aycan C?ic?ek, Naciye Demir, Ezgi Cakir, Aysegu?l C?agatay, Yagmur Ereren, Didem Baydar U?nsal, Yaprak Tu?rkmen, Ahmet Mandac? und Zehra O?zdemir wurden zu Freiheitstrafen zwischen drei und knapp neunzehn Jahren verurteilt – es entschied derselbe Richter, welcher in einem anderen Verfahren bereits gegen Selahattin Demirta eine Freiheitsstrafe gefällt hatte.
Konstruierte Vorwürfe
Ausgehend von der Verteidigung von Personen, die wegen Mitgliedschaft in der DHKP-C angeklagt waren, wird den Anwält*innen des Çagdas Hukukçular Dernegi (Verein progressiver Jurist*innen, ÇHD) vorgeworfen, selber auch Mitglieder dieser in der Türkei verbotenen Organisation zu sein. Dem Halk?n Hukuk Bürosu (Anwaltskollektiv des Volkes), wo einige der Angeklagten arbeiteten, wird zum Beispiel vorgeworfen, Terrorangeklagten Rechtshilfe anzubieten, diese von Aussagen abzuhalten und die Kommunikation zwischen den Gefangenen und der Aussenwelt zu ermöglichen. Auffallend an der Anklageschrift vom März 2018 ist, dass sich das mehrere hundert Seiten umfassende Dokument weitgehend auf allgemeine Ausführungen beschränkt und kaum personalisierte Vorwürfe gegenüber den Betroffenen enthält. Bei allen Angeklagten werden aber die Namen ihrer Mandant*innen aufgeführt, die sie im Zusammenhang mit Vorwürfen betreffend die DHKP-C verteidigt hatten.
Ausgangspunkt des Verfahrens bildete die Verhaftung von sechzehn Anwält*innen, die am 12. September 2017 zunächst für acht Tage in Polizeigewahrsam und danach in Untersuchungshaft genommen wurden. Die Festnahmen erfolgten lediglich zwei Tage vor einem Gerichtstermin zweier Klient*innen – Nuriye Gu?lmen und Semih Özakça, die verhaftet worden waren, nachdem sie aus Protest gegen ihre Kündigung aus dem öffentlichen Dienst in den Hungerstreik getreten waren. HRW interpretiert die Verhaftungen als Versuch, die Öffentlichkeitsarbeit rund um das Verfahren gegen die zwei Hungerstreikenden, die national und international einiges an Medienaufmerksamkeit erhalten hatten, zu beschränken.
Zwei weitere der insgesamt zwanzig angeklagten Anwält*innen wurden noch vor Ende 2017 in Haft genommen – darunter Selc?uk Kozagac?l?, der Vorsitzende des ÇHD.
Verfahrensmängel mit System
Als Mitglied des Europarates wäre die Türkei an die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden. Aber weder internationales noch türkisches Prozessrecht scheinen in den zahlreichen politisch motivierten Verfahren in der Türkei noch eine Rolle zu spielen – das ist Teil des «Konzepts» politisierter Strafverfolgung.
Anwält*innen kommt innerhalb eines rechtsstaatlichen Justizsystems eine bedeutende Rolle zum Schutz von Verteidigungsrechten sowie menschenrechtlichen Grundprinzipien zu. Trotzdem, oder gerade deshalb, müssen Strafverteidiger*innen in der heutigen Türkei damit rechnen, wegen der blossen Ausübung ihres Berufs letztlich mit denselben Vorwürfen wie ihre Mandant*innen auf der Anklagebank zu landen. Diese strafrechtliche Gleichsetzung von Anwält*innen mit ihren Klient*innen bedeutet einen Angriff auf das Recht auf eine effektive Strafverteidigung aller Angeklagten und stellt damit, so HRW, nichts weniger als die Grundlagen eines fairen Strafverfahrens an sich infrage.
Urteil im leeren Saal
Eröffnet wurde das Gerichtsverfahren am 10. September 2018 – auch anwesend waren über 150 nationale und internationale Beobachter*innen. Die Verhandlung fand in einem sonst als Konferenzsaal genutzten Raum statt, wo die Angeklagten in der Mitte, von Polizeireihen umringt, sitzen mussten und nicht mit ihrer Verteidigung kommunizieren konnten. Nach einer Pause am Nachmittag des erstens Prozesstages versuchte ein Verteidiger sich mit einem angeklagten Anwalt zu verständigen. Der Verteidiger wurde von der Polizei angegangen, woraus sich ein kleines Handgemenge entwickelte. Die Situation beruhigte sich zwar wieder und die nachfolgenden drei Verhandlungstage verliefen ohne Zwischenfälle, dennoch wurde entschieden, das Verfahren künftig im Gerichtssaal des Hochsicherheitsgefängnisses in Silivri fortzusetzen.
Am 14. September 2018, am letzten der ersten fünf Prozesstage wurden die siebzehn Anwält*innen, die sich damals seit einem Jahr resp. zehn Monaten immer noch in Untersuchungshaft befanden, freigelassen. Aber bereits am nächsten Tag revidierte das Gericht seinen Entscheid und stellte gegen zwölf der angeklagten Anwält*innen erneut Haftbefehle aus.
Es folgten weitere Verhandlungstage im Dezember 2018 sowie im März 2019. Letztlich lehnte es der vorsitzende Richter am 19. März 2019 ab, am folgenden Gerichtstag Anträge der Verteidigung auf weitere Abklärungen und Beweismassnahmen überhaupt erst entgegenzunehmen. Als Reaktion auf das in der Folge gestellte Ausstandsbegehren, schloss der Vorsitzende, Richter Ak?n Gu?rlek, am 20. März 2019 die Angeklagten und ihre Verteidigung aus dem Gerichtssaal aus – ohne die letzten Worte der Beschuldigten gehört zu haben, eröffnete er sein Urteil in faktischer Abwesenheit der Betroffenen und ihrer Verteidiger*innen.
Internationale Solidarität
Achtzehn der insgesamt zwanzig Anwält*innen wurden aufgrund der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit der Unterstützung resp. Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation schuldig gesprochen und zu Freiheitstrafen zwischen drei und knapp neunzehn Jahren verurteilt. Die Verfahren zweier Beschuldigter, deren Aufenthaltsort unbekannt ist, wurden abgetrennt. Die Verteidigung hat zwar Berufung gegen das Urteil eingereicht, jene, die sich bereits in Haft befinden, werden jedoch mit grösster Wahrscheinlichkeit bis Abschluss des Verfahrens im Gefängnis verbleiben.
Auch internationale Organisationen von An-wält*innen zeigen sich mit ihren Berufskolleg*innen solidarisch. So gingen am 5. April 2019 in Bern rund 80 Jurist*innen und andere Aktivist*innen auf die Strasse und Selc?uk Kozagac?l? wird Ende Mai den in Holland verliehenen Lawyers for Lawyers Adward 2019 erhalten. «Angesichts des anhaltenden Drucks auf die politische Opposition in der Türkei, ist internationale Solidarität von besonderer Bedeutung» sagt Melanie Aebli, Geschäftsleiterin der Demokratischen Jurist*innen Schweiz, die sich auch weiterhin an Prozessbeobachtungen beteiligen werden.
Vorwärts-Link
https://www.vorwaerts.ch/international/verteidigung-auf-der-anklagebank-159-jahre-1-monat-und-30-tage-haft/