Die Zeit war 1968 reif für eine sozialistische Arbeiterjugendorganisation in der Bundesrepublik Deutschland. Am 150. Geburtstag von Karl Marx gründete sich die SDAJ. Interview mit Dieter Keller, der im Gründungsausschuss und bis 1974 Stellvertretender Bundesvorsitzender der SDAJ war.
In welcher Situation hat sich die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) gegründet?
Dieter Keller: Die Situation ab Mitte der 60er Jahre war geprägt von einer gewissen Aufbruchstimmung unter der Jugend. Sie suchten nach Alternativen gegenüber dem kapitalistischen Systems und dessen negativen Auswirkungen auf die Jugend. Nicht nur der studierenden, sondern auch der arbeitenden und lernenden Jugend. Wenn heute in den Medien von der ausserparlamentarischen Opposition und den «68ern» berichtet wird, wird der Kampf der arbeitenden und lernenden Jugend bewusst verschwiegen. 1968 steht gleichzeitig für den Beginn der bundesweit organisierten Arbeiterjugend- und Lehrlingsbewegung. Sie war Teil der ausserparlamentarischen Opposition.
Grosse Teile der damals rebellierenden Jugend wollten mehr als nur Protest. Sie wandten sich gegen autoritäre Strukturen in Bildung und Erziehung. Sie suchten nach Wegen zur Veränderung der bestehenden ökonomischen und gesellschaftlichen Besitz- und Machtverhältnisse. Es ging darum den Adenauer-Mief (damals Bundeskanzler) in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) auszulüften. Dazu muss man wissen: Die entscheidenden Kreise der Wirtschaft, der Politik, des Staates, der Justiz waren durchsetzt von alten Nazis. Nachdem in der BRD die alten Besitz- und Machtverhältnisse wieder hergestellt waren, krochen diese wieder aus ihren braunen Löchern und kamen in führende Positionen. Unter ihren Talaren stank der Muff von tausend Jahren. Kiesinger, unter Goebbels Nazipropagandist, wurde Bundeskanzler und in Baden-Württemberg war der «fürchterliche Nazijurist» Filbinger Ministerpräsident.
Welche Rolle spielte die Lehrlingsbewegung?
Eine grosse. Doch möchte ich den Begriff Lehrlingsbewegung etwas erweitern mit Arbeiterjugendbewegung. Die Impulse zur Gründung der SDAJ gingen von verschiedenen Strömungen aus. Aus der demokratischen und linken Jugendclubbewegung, der Ostermarschbewegung, dem Kampf gegen den verbrecherischen Krieg der USA in Vietnam, aus der antimilitaristischen Arbeit, um nur einige zu nennen. Der meiner Meinung nach wichtigste und entscheidendste Teil bei der Gründung und der weiteren erfolgreichen Entwicklung der SDAJ aber kam aus der Arbeiterjugendbewegung und ihren Organisationen, aus jungen KommunistInnen, SozialistInnen, der Gewerkschafts- und der Naturfreundejugend. Eine ganz wichtige Rolle spielte das Jugendmagazin «Elan».
Warum war es richtig eine Organisation für Arbeiterjugendliche zu schaffen?
Uns, den GründerInnen der SDAJ, ging es nicht darum, irgendeine Organisation zu schaffen, sondern eine sozialistische Arbeiterjugendorganisation, die sich zu den Lehren von Marx, Engels und Lenin bekennt; einen freiwilligen, unabhängigen Zusammenschluss der arbeitenden und lernenden Jugend. Aus den vielfältigen Vorstellungen, Aktivitäten, Kämpfen und Bewegungen vor Ort erwuchs die Notwendigkeit einer gemeinsamen zentralen Zusammenarbeit und einer Organisation, die die vielfältigen Impulse aufgreift. Diese weiter verbreitet, koordiniert und sozialistische Auffassungen unter der Jugend verbreitet. Hinzu kam dass viele Jugendliche in «ihren» Erwachsenenorganisationen EinzelkämpferInnen waren und ihre Erfahrungen überregional austauschen wollten. Der Drang zur Schaffung einer sozialistischen Jugendorganisation nahm zu. Die Gründung war also fällig. Doch es stand die «Machtfrage». Die Frage: «Wer machts?»
Wie lief die Gründung der SDAJ ab?
Anfang Januar traf sich ein kleiner Kreis von GenossInnen in Dortmund. Wir kamen aus der Jugendclubbewegung, der Naturfreundejugend oder wie ich aus der Gewerkschaftsjugend und hatten dort Funktionen inne. Nach einer intensiven Diskussion verständigten wir uns, zum 150. Geburtstag von Karl Marx die Gründung einer sozialistischen Organisation der arbeitenden und lernenden Jugend vorzubereiten und zu vollziehen. Eine knappe Zeit, die uns da zur Verfügung stand.
Wir verständigten uns zu einer bundesweiten Beratung Ende Januar 1968 nach Leverkusen einzuladen. Die Beratung fand am 27./28. Januar 1968 im Haus der heutigen Karl–Liebknecht-Schule statt. Dort verabschiedeten wir einstimmig einen «Aufruf zur Gründung einer revolutionären sozialistischen Jugendorganisation» und bildeten einen Ausschuss zur Gründung. Tags darauf übergaben wir den Aufruf auf einer Pressekonferenz in Bonn und schreckten damit nicht nur die Presse auf. Noch nicht einmal gegründet, ging das Trommelfeuer gegen «das Gespenst» nicht des «Kommunismus in Europa», sondern gegen uns los.
Bis zur Gründung der SDAJ am 4./5. Mai in Essen fanden noch zwei weitere Sitzungen des Gründungsausschusses am 16./17. März in Duisburg und am 20./21. April in Bochum statt. Dort wurden die Dokumente für den Gründungskongress beraten und beschlossen. (Aktionsprogramm, Satzung und Namen.) Interessant dabei: Die kontroverseste Diskussion gab es um den Namen. Vielfältig waren die Vorschläge: Revolutionärer Jugendverband (RJV), Revolutionärer Sozialistischer Jugendverband (RSJV), Kommunistischer Jugendverband (KJV), Verband junger MarxistInnen, Sozialistischer Arbeiterjugendverband (SAJ). Auf der Aprilsitzung einigte sich der Gründungsausschuss auf den Vorschlag: Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend, SDAJ. Mit diesem Namen wollten wir Ziel und Hauptadressat, die Arbeiterjugend, deutlich machen. Beim Gründungskongress wurde dann der Name SDAJ mit grosser Mehrheit beschlossen.
Was waren eure Themenschwerpunkte in der Gründungsphase?
Die ergaben sich einerseits aus der konkreten politischen Situation und deren Auswirkungen auf Lehrlinge und junge ArbeiterInnen. Junge ArbeiterInnen und insbesondere Lehrlinge waren Objekt sozialer Willkür. Die Unternehmen handelten nach dem Motto: «Brauchst du einen billigen Arbeitsmann, so schaff dir einen Lehrling an.» Das wollten wir ändern. Wir forderten: «Das Übel an der Wurzel packen – die Macht der Grosskonzerne knacken!» Weitere Themenschwerpunkte waren die internationale Solidarität mit Vietnam, Kuba, mit den Befreiungsbewegungen in Afrika. Wir traten ein für die Freilassung von Nelson Mandela. Wir waren aktiv für die Anerkennung der DDR. Als antifaschistische Jugendorganisation kämpften wir gegen Neofaschismus und für das Verbot der NPD. Wir kämpften gegen Militarismus und Kriegsvorbereitung. Damit verbunden ging es in unserer Gründungsphase um den Charakter des zu gründenden Jugendverbandes.
Was waren eure ersten Aktionen?
Die erste ganz grosse Herausforderung war der Protestmarsch der 80’000 gegen die Notstandsgesetze am Samstag nach unserer Gründung. Dort traten wir mit Transparenten und Flugblättern erstmals öffentlich in Aktion. Die folgenden Jahre der Arbeit und des Auftretens der SDAJ waren dann geprägt von vielen Lehrlings- und Arbeiterjugendaktionen, für eine bessere Bildung und Berufsausbildung. Wir bekämpften die «Oma Gewerbeordnung», und forderten ein neues Berufsbildungsgesetz. Diese «Oma Gewerbeordnung» aus preussischen Zeiten, damals schon 100 Jahre alt, im Faschismus bewährt, «muss weg», so unsere Forderung. Sie kam weg. Ein neues Berufsausbildungsgesetz kam zustande. Zwar nicht nach den Wünschen und Forderungen der Arbeiterjugend, sondern modifiziert im Interesse des Kapitals. Wir führten Veranstaltungen, Kongresse und Tribunale durch: Arbeiterjugend kontra Monopole.
Welche Rolle spielten für euch die Weltfestspiele in Sofia 1968 und Berlin 1973?
Für die jungen SDAJlerinnen und SDAJler waren beides begeisternde Erlebnisse. Sie waren Teil und eingebunden in die grossartige internationale Solidarität der Weltjugend. Für die junge SDAJ waren besonders beeindruckend und bedeutungsvoll die Weltfestspiele der Jugend und StudentInnen in Sofia. Die SDAJ nahm erstmals teil. Unsere Erwartungen wurden mehr als übertroffen. Die Begeisterung kannte keine Grenzen. Gleichzeitig war sie die erste grosse internationale Bewährungsprobe für die junge SDAJ. Durch ihr gesamtes Auftreten auch gegen manches Störmanöver aus der Reisegruppe des Deutschen Bundesjugendrings (DBJR) verschaffte sich die SDAJ hohe internationale Anerkennung. Durch die Weltfestspiele in Berlin wurde das unterstrichen.
Abschliessend möchte ich sagen, die Gründung und Entwicklung der SDAJ wurden zu einer Erfolgsgeschichte. Daran hat der viel zu früh verstorbene Genosse Rolf Priemer, er war Bundesvorsitzender der SDAJ von 1968 bis 1974, einen grossen entscheidenden Anteil. Die Zusammenarbeit bei der Gründung der SDAJ und dann die Arbeit in der SDAJ gehören zu meinen positivsten und angenehmsten Erinnerungen und Erfahrungen meiner politischen Arbeit.
Quelle: Unsere Zeit