Michel Poittevin ist aktiv in der französischen Basisgewerkschaft Solidaire SUD, die einen Arbeitskampf bei McDonald’s in Marseille unterstützt. Ein Gespräch mit ihm – auch über die aktuelle innenpolitische Situation in Frankreich und die «Gilets jaunes».
Ihre Gewerkschaft unterstützt einen Arbeitskampf bei McDonald’s in Marseille. Ist es nicht schwierig, gerade dort Beschäftigte zu organisieren?
Michel Poittevin: 2012 gab es die erste Auseinandersetzung in der Filiale von McDonald’s de Saint-Barthélémy in Marseille. Die Beschäftigten konnten so ein 13. Monatsgehalt und andere Verbesserungen durchsetzen. Die erkämpften Rechte wurden infrage gestellt, als in der Filiale der Besitzer wechselte. Dabei muss man wissen, dass McDonald’s ein Franchisemodell eingeführt hat. Die FranchisenehmerInnen zahlen an McDonald’s Miete und eine Umsatzbeteiligung. Mit den Franchisemodell sollen die erkämpften ArbeiterInnenrechte zurückgerollt werden. In dieser McDonald’s-Filiale entwickelte sich daraus 2017 ein monatelanger Streik. Er wurde nicht nur in ganz Frankreich bekannt. Sogar im Ausland wurde darüber berichtet. Auch in grossen US-Zeitungen gab es Artikel.
Warum bekam die Auseinandersetzung gerade in dieser Filiale eine solche Bedeutung?
Der Grund liegt sicher an dem besonderen Charakter dieser McDonald’s-Filiale. Sie ist in dem Stadtteil im Norden von Marseille gut sichtbar und mit etwa 70 Beschäftigten auch sehr gross. Sie ist für viele BewohnerInnen des Stadtteils ein wichtiger sozialer Ort. Das liegt auch an der Politik, die die soziale Infrastruktur in dem von Menschen mit geringen Einkommen bewohnten Viertel vernachlässigt. Die meisten Beschäftigten wohnen auch im Stadtteil. Der Arbeitskampf wurde so auch im Stadtteil unterstützt.
Wie hat die McDonald’s-Zentrale auf die Auseinandersetzungen reagiert?
Geld spielt für McDonald’s keine Rolle. Die Gewinnspanne der Filialen in Frankreich ist gross. So versuchte das Management, die Beschäftigten mit grosszügigen Abfindungen zur Kündigung zu bewegen. Zudem wollte man sich im Stadtteil bei der muslimischen Bevölkerung beliebt machen, indem man ankündigte, dass die Filiale Halal-Produkte verkaufte. Das kam aber bei der Bevölkerung nicht gut an. Viele sagten, wenn sie halal essen wollten, brauchten sie nicht zu McDonald’s zu gehen. Sie erkannten, dass man damit die Rechte der Beschäftigten zurückrollen wollte. Der Kampf hatte Erfolg. Die Betriebsübernahme wurde schliesslich gerichtlich verboten. Darauf beschloss McDonald’s, dass die Filiale in ihren Besitz bleibt. Allerdings sollten vier Beschäftigte entlassen werden. Darunter ist ein langjähriger Gewerkschafter, der eine zentrale Rolle in dem Arbeitskampf gespielt hat. Ihm wurde von McDonald’s 700 000 Euro Abfindung angeboten, wenn er auf seinen Job verzichtet. Er hat das Angebot zurückgewiesen und damit deutlich gemacht, dass er sich nicht kaufen lässt.
Es gab aber nicht nur solche Angebote. Mit welchen anderen Methoden wurde gegen die GewerkschafterInnen vorgegangen?
Angesichts der Weigerung der Beschäftigten, sich kaufen zu lassen, kam es zu gewaltsamen Aktionen, wie ich sie als langjähriger Gewerkschafter noch nicht erlebt habe. Es begann mit Drohungen und endete mit körperlicher Gewalt. Der Höhepunkt war eine Szene, als einem gewerkschaftlichen Aktivisten eine Knarre an den Kopf gehalten wurde.
Wie reagierte Ihre Gewerkschaft darauf?
Wir machten diese besonders brachiale Form von Union-Busting öffentlich. So organisierten wir eine Versammlung, in der wir die Gewalt gegen GewerkschafterInnen bekannt machten. Als klar wurde, dass wir uns davon nicht einschüchtern liessen, hörten die Drohungen auf.
Wie ist der aktuelle Stand der Auseinandersetzung?
Es ist jetzt zu einer juristischen Auseinandersetzung geworden. Es geht um die Rechtmässigkeit der Entlassungen der vier KollegInnen.
Die Bewegung der «Gilets jaunes», der gelben Westen, macht in den letzten Wochen Schlagzeilen. Hat Sie das Auftauchen dieser Bewegung überrascht?
Nein, die soziale Bewegung in Frankreich hat die Strasse nie verlassen. Es gab sie bei dem konservativen Präsidenten Sarkozy ebenso wie beim Sozialdemokraten Hollande. Doch diese sozialen Bewegungen waren immer stark geprägt von den Gewerkschaften. Die Bewegung der «Gilets jaunes» mobilisiert offen unter dem Motto «Weder Parteien noch Gewerkschaften». Das ist das Neue in der gegenwärtigen Situation.
Was ist der Grund für diese antigewerkschaftliche Haltung?
Das ist auch eine Folge der Politik von Macron, aber auch seiner Vorgänger. Es gab unverhohlene Angriffe auf das Sozialsystem, auf die ArbeiterInnenrechte, die Zerschlagung des öffentlichen Dienstes. Es gab eine Politik der Umverteilung von unten nach oben. Viele Menschen sehen, dass für sie, trotz des von Macron gepflegten Redens über den Fortschritt, nichts herausspringt. Der Graben zwischen Stadt und Land wächst. Die Ideologie der Ich-AG, des Kleinunternehmertums, hat auch in den Köpfen vieler Menschen Einzug gehalten. In dieser Situation ist eine Bewegung entstanden, die wir als linke GewerkschafterInnen nicht einschätzen können. Es haben sich Menschen organisiert, die nicht oder kaum gewerkschaftlich organisiert sind und das auch nicht wollen.
Wie verhalten sich die Gewerkschaften dazu?
Gewerkschaften sind dort ebenso wenig erwünscht wie Parteien. Aber es können sich natürlich Gewerkschaftsmitglieder als Einzelpersonen beteiligen. Darüber gibt es zurzeit bei den verschiedenen Gewerkschaften grosse Auseinandersetzungen. Es gibt SUD-Mitglieder, die sich an den Protesten beteiligen. Ich sehe den Grund auch darin, dass es lange keinen erfolgreichen gewerkschaftlichen Kampf und Streik mehr in Frankreich gegeben hat. Da wollen sich manche endlich wieder an einer Bewegung beteiligen, die auf die Strasse ist. Ich halte das für eine gefährliche Entwicklung. Ich lehne eine Beteiligung ab.
Warum beteiligen Sie sich nicht daran?
Mehrere der Personen, die für die «Gilets jaunes» sprechen, vertreten Positionen wie sie auch vom Front National oder anderen rechten Gruppierungen zu hören sind. Ich befürchte, dass sich hier nach italienischem Vorbild eine französische Variante der Fünf-Sterne-Bewegung etablieren könnte.
Gibt es historische Parallelen zu dieser Bewegung in Frankreich?
In den 1950er Jahren formierte sich unter Führung des Ladenbesitzers Pierre Poujade eine mittelständische Anti-Steuerbewegung. Bei den Wahlen 1956 zogen die PoujadistInnen unter dem Namen «Union zur Verteidigung der Handwerker und Geschäftsleute» mit 12 Prozent in das französische Parlament ein. Die heterogene Bewegung ist schnell wieder zerfallen. Einer der Abgeordneten war Jean Marie Le Pen, der bald den Front National eine eigene rechte Partei aufbaute. Bei den «Gilets jaunes» könnte es sich um eine neopoujardistische Bewegung handeln.
Wie könnte eine linke Alternative jenseits von Macron und gelben Westen aussehen?
Die Gewerkschaften in Frankreich müssten sich endlich an einen Tisch setzen und ein gemeinsames Aktionsprogramm gegen die Politik von Macron ausarbeiten. Für mich ist es ein historisches Versagen, wenn sich Gewerkschaften wie die CGT oder die SUD nicht auf gemeinsame Aktionen einigen können. Das ist besonders gefährlich in einer Zeit, in der die Rechte erstarkt. Das könnte sich schon bei den Europawahlen im nächsten Jahr zeigen.
Gibt es neben den «Gilets jaunes» nicht auch linke Proteste in Frankreich?
Ja, in Marseille, wo ich lebe und gewerkschaftlich aktiv bin, gab es grosse Demonstrationen gegen die Wohnungsnot. Es war auch ein Protest gegen eine Stadtpolitik, die sich nur für die Bedürfnisse des Tourismus in der Stadt einsetzt. Gleichzeitig stehen in Marseille Tausende Wohnungen leer. Sie wurden für unbewohnbar erklärt und zugemauert. Dagegen sind die Menschen auf die Strasse gegangen und organisieren sich.